Mittwoch, 23. August 2006

Der anaphylaktische Schreck

Das Leben in der Großstadt ist voller Versuchungen, sagt man so, und wer müde wird mit den Jahren, überdrüssig der allzu vielen Reize, die uns umgeben, der wandert ab und wird irgendwo am Land alt und träge. Wie anders jedoch, meine Damen und Herren, stellt sich das Leben der Tiere dar, die unsere Nachbarschaft bevölkern! Gehätschelt, verwöhnt, und fernab der Gefahren durch Kraftfahrzeuge oder schlechte Menschen, wie die Städte sie bekanntermaßen anziehen, lebt das Haustier auf samtenen Kissen, wird immer dicker und stirbt schließlich am Herzinfarkt nach zuviel Pedigree Pal. Die wilden Tiere jedoch entbehren solcher Rückzugsräume, und nur die härtesten, robustesten Exemplare überleben die außerordentliche Beanspruchung ihrer Nerven und die stetigen Gefahren, denen es auszuweichen gilt.

Sterben aber die sanften, schwachen Tiere vor der Zeit, so vermehren sich nur die gerissensten, bösartigsten und größten Quadrupeden weiter, und was für die Säugetiere gilt, gilt für die Insekten nicht minder. Die Stadtmücke, die urbane Wespe, die Berliner Biene sogar, ist also ein Lebewesen, welches seinen ländlichen Artgenossen durch Gefährlichkeit und Heimtücke weit überlegen ist.

Nicht weiter erstaunlich ist es also, dass der Insektenstich, den ich am Sonntag irgendwo davongetragen haben muss, binnen kürzester Zeit erstaunliche und geradezu ekelhafte Ausmaße erreichte. Vom Knie bis zum Knöchel ist mein linkes Bein rot wie ein Engländer in Italien, pocht wie Gevatter Tod an die Haustür seiner Kunden, und ist dicker als die sprichwörtlich fette Tante des geschätzten Gefährten.

Aber nicht nur groß, nicht nur mächtig unter den geflügelten Bewohnern Berlins, nein, auch hoch infektiös muss das Insekt gewesen sein, so dass am Montag morgen mein ganzes linkes Bein kribbelte, schmerzte, irgendwann wurde die Einstichstelle blau, und nette Kollegen reichten mir Citirizin, um zumindest meine Arbeitskraft zu erhalten, wenn schon mein Wohlbefinden nicht zu retten war. Mit einem Handtuch um das Bein, befestigt mit einer großen Aktenklammer saß ich also an meinem Schreibtisch und schaute ein wenig traurig aus der Wäsche.

Am Montag abend hatte mein Bein einen wahrhaft erheblichen Umfang erreicht. Dick und blau hing ein annähernd länglicher Klumpen an meinem Rumpf, der auf die geringste Berührung dermaßen empfindlich reagierte, dass der geschätzte Gefährte leichtes Spiel hatte, mich aus dem Haus und zur Charité zu treiben. – „Du bist doch privat versichert, das geht ganz schnell.“, hatte der J. mich getäuscht, aber zunächst schien er recht zu behalten und ich fiel auf die zügige Anmeldung herein und nahm Platz. Mein Bein pochte, das einzige in der Schnelle gegriffene Buch erzählte die ganze Geschichte des hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich, und der geschätzte Gefährte schwieg. Und schwieg. Und schwieg.

Mir indes ist das Schweigen nicht gegeben. – „Entschuldigen sie,“, sprach ich ein Mitglied des ärztlichen Personals statt dessen an. „Können sie mir sagen, wie lange es noch dauert....?“ – Man konnte nicht. Ungefähr eine Stunde später humpelte ich zur Tür, die den Warte- vom Behandlungsbereich abtrennt, Wutschaum vor meinem Munde, zitternd vor Insektenallergie und Erregung, und forderte auf der Stelle eine umfassende Behandlung ein.

„Ich kann sie in die Dermatologie schicken.“, sprach ein paar wirklich patzige Minuten später ein junger Arzt mit unvorteilhaftem Seitenscheitel zu mir. „Komm' ich denn da gleich dran?“, fragte ich, und packte, als die Antwort zwar wie erwartet, nicht aber wie erhofft, ausfiel, meine Sachen und entschwand unbehandelt, aber entrüstet, und zog den J. hinter mir her.

„Wenn mir heute nacht das Bein abfällt!“, brauste ich auf und erschreckte den J. wie den Taxifahrer durch drastische Schilderungen meines zukünftigen Schicksals. „Der *** Arzt! Die ** Charité! Das vollständige Fehlen von komfortablen und geschmackvollen 24-Stunden-Praxen für gemarterte Berufstätige!“, grollte ich dem Berliner Gesundheitssystem und verwünschte die Tierwelt, insbesondere die Berliner Tierwelt, die deutsche Medizinerausbildung und sprach so laut und schlecht über Menschen mit Seitenscheiteln in hässlichen weißen Kitteln, dass der Taxifahrer den Kopf ein wenig zwischen die Schultern zog, um nicht versehentlich ebenfalls in den Radius meiner Verwünschungen zu geraten.



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