Montag, 4. Dezember 2006

Die Irrfahrten der Frau M. und ihres Gefährten

An irgendeinem Punkt der Müdigkeit kippt die Benommenheit um, und macht einem überwachen, nervös geschärften Zustande Platz, in dem die Welt um mich herum einen gleichsam surrealen Charakter annimmt. Die Farben wirken trotz der schwachen Beleuchtung im Flugzeug satter und greller. Das Licht der Leselampe scheint einen fremdartigen, seitlichen Einfallswinkel anzunehmen, das an die Beleuchtung auf Gemälden de Chiricos erinnert. Ab und zu zupfe ich dem geschätzten Gefährten neben mir an den Locken. Der Gefährte schläft.

Immer wieder falle ich in einen leichten Schlaf, in dem sich die Bilder der letzten Tage und die längst vergangener Tage ineinanderschieben. Das gleißende Rom des Sommers 1993, aufgerissen wie eine überreife Tomate. Die Weite der Plätze dagegen in diesem November, die ausgeräumten Gesichter der Römer am Ende des Jahres, entleert und grau wie Rom selber, als habe der Winter der Stadt das Blut ausgesaugt. Der Winter ist ein harter Mann, singt der Schlaf mir vor. „Bitte anschnallen“, beendet ein Steward die Schlafgesänge, und langsam sinkt das Flugzeug ab. 21.00 Uhr in Berlin Schönefeld.

Mir dem Taxi will der J. nicht fahren, der Regionalexpress kommt erst in zwanzig Minuten, und die S 9 sofort. „Wieso steht hier nur Schöneweide?“, frage ich den J. und zeige auf das Schild auf dem Bahnsteig. Der J. weiß das aber auch nicht, und so steigen wir ein. „War doch schön in Rom, oder?“, frage ich den geschätzten Gefährten ein wenig ängstlich, und bin erleichtert, als er nickt.

Warum können die nicht alle schweigen, denke ich, als der Zug anfährt, und ein Mädchen laut telefoniert. Irgendwem hat sie nicht erzählt, dass sie nach Berlin fährt, der jetzt beleidigt ist. Jetzt verteidigt sie sich laut und engagiert. Warum legt sie nicht einfach auf, denke ich und schließe immer wieder für Sekunden die Augen. Müde bin ich. Schlafen will ich, das Licht ausmachen, erst die Ruhe und dann das Nichts. Mich loslassen und treiben.

Mit Schlafen aber ist es nichts. Schöneweide ist Endstation. Schienenersatzverkehr bis Baumschulenweg, und mit all den anderen Fahrgästen, die von der Peripherie nach Mitte fahren, verlassen wir die Station. Kalt ist es, kälter als in Rom, und außer den Reisenden mit ihren Koffern vom Flughafen haben sich die Waggons mit Jugendlichen gefüllt, die im Südosten der Stadt wohnen, und am Samstag abend dahin fahren wollen, wo etwas los ist. Da wohnen wir.

Keine schönen Menschen wohnen hier am Rande der Stadt. Jung sind sie alle, aber etwas fehlt, vielleicht die Elastizität, das Federnde des Jungseins. Unproportioniert wirken sie, irgendetwas an ihnen passt nicht zueinander, und bleich sehen sie aus, etwas grob dazu, mit allzu großen Händen und Füßen. Trotzig betonen sie ihre unschönen Gestalten mit greller, billiger Kleidung, weiße Jeans, glitzernde, synthetische Stoffe und vielfarbigem Make-Up. Die Mädchen trinken Mixgetränke aus der Flasche, die Jungen Bier, lachen und lärmen laut und ungeschlacht, und die Atmosphäre ist geladen mit Aggressivität. Ein falsches Wort, eine Geste, und einer der grölenden Jungen wird die Hand heben, denke ich. Mir ist nicht wohl.

Der Gefährte schweigt halb verschlafen, halb angewidert, und im übervollen Bus schauen wir ein wenig ängstlich um uns. Laut und zotig geht es her, und die Müdigkeit lässt die groben, billigen Gesten noch greller wirken. Wären wir schon da, daheim, und die Nacht still und dunkel, denke ich.

Der Bus spuckt seine lärmende, laute Fracht auf den Bahnhofsvorplatz. In Baumschulenweg gibt es nicht einmal Taxen. Betrunkene Frauen lachen in schrillem Diskant und stoßen ihre Flaschen gegeneinander. Es wird noch mehr gelacht, man erkennt sich, fällt sich um den Hals, und die kehligen, halb noch stimmbrüchigen Stimmen der Jungen sind kaum zu verstehen. „Die können ja nicht einmal mehr richtig sprechen.“, raune ich dem J. zu und drücke mich enger an den geschätzten Gefährten.

Auf dem Bahnsteig schwankt eine Gestalt im Kunstpelz herum, ein Mann mit tiefer, verbrauchter Stimme, geschminkt und mit ausgestopfter Bluse, wiegt sich in den Hüften, wie es nur Männer tun, die Frauen imitieren. Er wankt von Gruppe zu Gruppe. Einem Jungen hält er die falschen Brüste entgegen, spricht Unartikuliertes und drückt sich eng an den Wartendenden vorbei. Brueghel, denke ich. Oder Bosch, und weiche in weitem Bogen aus, wenn die wirre Gestalt sich nähert. Mitleid sollte man haben, ermahne ich mich, aber mein Mitleid ist müde, mein Mitgefühl mit dem armen Verwirrten reicht nur noch bis zu dem Wunsch, jemand möge ihn in ein Krankenhaus bringen, irgendwo anders hin jedenfalls, und für Mitleid mit den derben, lärmigen Jugendlichen sind jene zu laut. Schweigt, denke ich. Oder bleibt einfach zu Hause.

In der endlich eingefahrenen S 9 hat jemand einen Stock vergessen. Es handelt sich um einen langen, baseballschlägerartigen Stock, der einfach so vor unserem Sitz liegt. „Was macht man mit so einem Stock?“, frage ich den J. „Sich prügeln.“, antwortet der und berührt den Stock angeekelt mit den Fußspitzen.

Ab Treptower Park wird es besser. Die betrunkenen Krokodilsgesichter werden weniger, die Stimmen leiser, und die Anspannung sinkt. Langsam kriecht die Müdigkeit wieder näher.

„Ich muss noch was essen.“, sagt der J., und spät, schwankend vor Schlaf, bedeckt von den grellen, groben Fetzen der Fahrt sitzen wir uns gegenüber. „Was darf ich euch bringen?“, sagt der Kellner, und von draußen drückt meine Müdigkeit dämonische, fratzenhafte Gesichter an die Fensterscheiben des Lokals.

"Fast zu Hause.", lächelt der J. mir zu.



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