Normalverteilung
Auch nie verstanden habe ich ja die rein mathematische Seite des Liebeslebens, die Frage der Verteilung nämlich, mit der es sich folgendermaßen verhält:
Jeder alleinstehende Deutsche verliebt sich ungefähr zweimal jährlich. Rechnen wir das immerhin ausbaufähige Interesse dazu, so kommen wir auf drei verschiedene Personen, auf die sich Hoffnungen richten. Fragen wie „Wer war eigentlich der Typ, der....“, oder „Kennst du den X., der immer kommt, wenn...“, werden gestellt, und auffallend häufig wird von X oder Y gesprochen. Es wäre ganz nett, so gibt die betroffene Person meistens nach einiger Zeit zu, wenn X oder Y einfach mal anriefe. Die interessierende Person indes ignoriert die Versuche, möglichst zufällig miteinander auszugehen, so hartnäckig, dass selbst gute Freundinnen empfehlen, den Betreffenden einfach zu vergessen.
So weit, so gut. Alle alleinstehenden Leute, die ich so gut kenne, dass sie mir derlei Dinge mitteilen, verlieben sich also zwei- bis dreimal jährlich. Gehen wir also davon aus, dass das bei allen Leuten so ist, so müsste sich doch rein rechnerisch auch in jeden – abgesehen von sehr unvermittelbaren Fällen – alleinstehenden Deutschen auch zwei bis drei Personen pro Jahr verlieben? Und selbst wenn man einen großzügigen Faktor von 50 % Abweichung aufgrund differenzierter Attraktivität einbezieht, so kommt immer noch 1,5 Verliebter auf jeden Single, und auf manche eben 4. Da wir besonders schöne und besonders abstoßende Menschen bei dieser Berechnung aus Vereinfachungsgründen einfach weggelassen haben, gleichen sich Models und Monstren gegenseitig aus und tauchen in unserer Alltagsbetrachtung gar nicht auf.
Nun indes zeigt das Leben uns einen sonderbar gewachsenen Pferdefuß, denn beileibe nicht alle Personen, die ich kenne, stoßen in diesem Umfange auch auf Anklang, ohne dabei hässlich, sonderbar oder mit anderen Ausschlussmerkmalen behaftet zu sein. Statt dessen schwören die meisten mir bekannten Alleinstehenden Stein und Bein, exakt niemand habe sich 2006 in sie verliebt, null Liebesbriefe inklusive elektronischer Mitteilungen seien eingegangen, und keine Seele sei ihnen in physischer Hinsicht nachgelaufen.
Da bleiben wenig logische Schlüsse, die mit unseren zuvor eingeführten Axiomen vereinbar wären. Entweder ist die Verteilung noch schlechter als der bisher angenommene Attraktivitäts-Ausgleichsfaktor von 50 %, und nahezu alle Leute verlieben sich in bildschöne, perfekte Geschöpfe, denen nicht – wir erinnern uns - vier, sondern 44 Anbeter anhaften. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Alterung der mich umgebenden Menschen, die das dreißigste Lebensjahr unterdessen so gut wie alle überschritten haben, und mögicherweise der männlichen Vorliebe für zweiundzwanzigjährige Studentinnen beim ersten Betriebspraktikum zum Opfer fallen. Indes war auch mit 22 die Bewerbersituation überschaubar, und denn Männern scheint es nicht anders zu gehen.
Oder die Welt besteht aus heimlich Verliebten die sich gegenseitig ängstlich, gespannt, aber schweigend umkreisen, kein Wort dabei sagen, und irgendwann erschöpft aufhören, verliebt zu sein, weil der andere sie nicht von selbst erhört, was als Alternative weniger deprimierend wäre, aber gleichfalls nicht eben wahrscheinlich.