Am kalten Fuß der Mittagsberge
They are not long, the days of wine and roses:
Out of a misty dream
Our path emerges for a while, then closes
Within a dream.
Ernest Dowson, Vitae Summa Brevis
Als hätte jeder Mensch ein bestimmtes Lebensalter, das seinem Wesen, seinen Fehlern und seinen Vorzügen am ehesten entspräche, stellt man sich den Heiligen Augustinus stets etwa dreißigjährig, den Heiligen Thomas von Aquin dagegen als einen Mann von fünfzig Jahren vor. Schopenhauer, denke ich mir, muss Zeit seiner Tage ein alter Herr gewesen sein, mit einem Leber- oder Gallenleiden, und trotz des zarten Jugendphotos, das wir kennen, lebt Virginia Woolf in meiner Vorstellung als eine ungefähr vierzigjährige Frau, die leise, artistische Romane schreibt, deren Körperlosigkeit etwas Gedämpftes anhaftet: Eine langsam ergrauende Dame, die leise spricht und auf flachen, bequemen Schuhen zügig spazieren geht.
Über den, den wir uns alt oder jung, schnell oder langsam denken, mag dieses Bild nicht viel mehr verraten als über uns als Betrachtende, und so ist der goldene Knabe der Jahrhundertwende, Hugo von Hofmannsthal, offenbar post mortem noch ein wenig gealtert, und zeigt sich uns nun als der soignierte, immer etwas bekümmerte Herr, nicht unähnlich dem dann doch gröberen Stefan Zweig, wie er mit der gar nicht so zarten Hand eine Cognacschwenker wärmt oder frauenhaft glucksend lacht, vorgebeugt sitzend in einem chintzbezogenen Sessel.
Allen Schwankungen, allen Verschiebungen der Sicht zum Trotz erscheint es uns aber, als habe jeder, dessen man sich erinnert, nur wenige Jahre durchlebt, in denen er ganz auf der Höhe, ganz bei sich gewesen sei: Die Mittagsjahre, der Zenit, die Vollendung, denen ein langsames Abebben nachfolgt, oder ein jähes Ende, als hätte jemand plötzlich eine Taste gedrückt oder den Stecker gezogen. - Ganz so oder ähnlich, denke ich mir dann, werden auch wir, die wir nur die Ebenen bereisen, unsere besten Jahre haben, die Mittagshitze unseres kleinen Tages, die wenigen Jahre, in denen wir dem warmen Strom am nächsten wohnen, und wir am ehesten dem, was wir können und sind, ähneln oder gleichen.
Aber manchmal, in der M 10, wenn der Schnee an den Scheiben schmilzt, treibt es einen um, ob nicht die besten Jahre schon hinter uns liegen, und das, was schon war, nicht mehr erreicht werden wird von dem Kommenden, sondern wir nur immer weiter treiben, ruderlos, der Dunkelheit entgegen, ein täglich verblassender Abglanz unseres Seins, der Kadaver unserer Möglichkeiten, und einfach nur noch da:
Wer weiß schon, wozu.