Hauptbahnhof
Hier ist alles hart. Dass es woanders Erde gibt und Gras, Wind und Sonne, ist unvorstellbar. Wer hier nicht friert, hat keine Seele, und ich ziehe mir die Jacke enger um den Leib. Der ICE nach Leipzig hat 25 Minuten Verspätung, teilt eine leidenschaftslose Stimme alle paar Minuten mit, und auf dem Bahnsteig steht ein pummeliges Mädchen in einer viel zu großen Daunenjacke und teilt Kaffee aus, damit die Fahrgäste nicht zu schlecht gelaunt werden, während der Zug irgendwo anders auf der Strecke steht.
Einen Film könnte man hier drehen, der im Weltall spielt, schaue ich mich um, und statt auf der ICE-Strecke nach Süden würde der Zug dort, wo der Bahnhof aufhört, in ein laut- und lichtloses Nichts eintauchen, durch eine Schwärze gleiten, in der keine Lichter von menschlichen Siedlungen künden, und wo gar nichts wäre, außer ein paar scharfkantigen, blinden, grauen Brocken Gestein und Geröll, die durchs Weltall fallen, um irgendwo aufzuschlagen, wo keiner es hört.
Ich hätte Handschuhe mitnehmen sollen, reibe ich mir die Finger und schaue auf die Tafeln über dem Bahnsteig, die den Zug in zwanzig Minuten ankündigen und um Verständnis für die Verspätung werben. Wenn der Zug nicht kommt, fährt du nach Hause, verspreche ich mir, und schließe für ein paar Sekunden die Augen. Schön wäre das, sich ein paar Stunden Zeit zu stehlen, so lange zu schlafen, bis ich mich wieder spüren kann, bis die Betäubung verschwindet, und einen Herzschlag lang stehe ich schon fast wieder auf der Rolltreppe, fahre hoch und verlasse den Bahnhof dorthinaus, wo die Taxen stehen.
„Der Zug fährt gleich ein.“, wirft mir ein fremder Mann ungefragt zu, lacht, als habe er einen Witz erzählt, und verlegen lächele ich ein bißchen mit. „Danke.“, sage ich und drehe mich schnell um, bevor er noch etwas sagen kann, und eine Bekanntschaft beginnt, für die ich zu müde bin, viel zu müde, wie für alles, was heute noch kommen kann oder morgen oder irgendwann sonst.
Schlafen, denke ich, und steige dann doch in den Zug. "Nach Leipzig bitte einsteigen.", schließen sich die Türen, und nun freue ich mich doch auf die Lesung und bin ein bißchen gespannt, wie es wohl wird in Leipzig, ob die Sachsen mich mögen, ob die Texte gut genug sind, und der Abend es wert sein wird, im Bahnhof zu frieren, zu warten und durch die Kälte zu fahren, statt einfach zu Hause zu sein und zu schlafen.