Sonntag, 22. Juli 2007

Das tägliche Leben

tua res non agitur

Von keiner europäischen Epoche, will mir scheinen, ist unsere Vorstellung so präzise wie von den knapp 150 Jahren zwischen dem Aufstieg Napoleons und dem Tod Adolf Hitlers. Dies mag zum einen an den technischen Möglichkeiten der Dokumentation liegen. Überdies fördert die zeitliche Nähe und die massenhafte Existenz von Zeitzeugnissen in Form von Tagebüchern, Briefen etc. aus so gut wie allen europäischen Regionen und Gesellschaftsschichten unsere Vorstellung, wie das Leben der Menschen tatsächlich verlaufen sein muss. Zu einem nicht geringen Teil aber beruht unsere Kenntnis dieser Jahrzehnte auf der Präzision ihrer Literatur.

In jenen Jahren, so wissen wir, gelangt der Roman zu einer seither kaum mehr übertroffenen Meisterschaft, die Gegebenheiten des äußeren Lebens mit einer Genauigkeit abzubilden, die es uns ermöglicht, den Speiseplan einer Lübecker Kaufmannsfamilie ebenso nachzuvollziehen wie die genauen Umstände des Aufstiegs eines französischen Journalisten, die Urlaubsgewohnheiten einer Wiener Arztfamilie oder die Art und Weise, wie ein russischer Aristokrat Weihnachten feiert. Wir wissen, welche Vorbereitungen ein Ball in der britischen Provinz erfordert. Wir kennen aber auch nicht minder die Ängste eines Pragers Angestellten, die Inkonsequenzen einer Gesellschaft, die eine russische Dame am Ende unter die Eisenbahn bringen, und hören den Lügen dieser Epoche ebenso zu wie ihren Witzen, ihren Wahrheiten, ihren Traurigkeiten und ihrem Tod. Wir sind, mit einem Wort, mit dem alltäglichen Leben des Bürgers des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. in hohem Maße vertraut.

Mit dem Krieg, mit der Gruppe 47 vielleicht, vielleicht auch noch später, hört die deutschsprachige Literatur langsam erst, dann schneller auf, das alltägliche Leben zu beschreiben. Es scheint, als ob insbesondere das Leben des Durchschnittsbürgers stark an Interesse für diejenigen verloren hat, die es zwar meist – dem eigenen Herkommen nach – kennen müssten, es zu beschreiben aber wenig Liebe zeigen. Spielt ein Roman doch einmal in der Welt der dauergewellten Vorzimmerdamen, der rheinischen Notare oder der Sachbearbeiter in einer großen Behörde, so scheinen die Autoren ihrem Sujet nie ganz zu trauen.

Nun gibt es sicherlich keinen Grund, die Welt eines badischen Hosenfabrikanten langweiliger zu finden, als die Welt der vermutlich überaus banalen Madame Bovary. Gleichwohl flüchtet die Literatur entweder in die vermeintlich pittoreske Welt an den Rändern der Gesellschaft, die – so meine Vermutung – keinesfalls so beschaffen sein kann, wie sie in den Romanen insbesondere der letzten drei Jahrzehnte auftaucht. Das Leben auf der Straße mag des Erzählens wert sein – Gründe, es interessanter, reicher oder vielschichtiger zu finden als das Leben desjenigen, der sich Gedanken nicht über das „Ob“ eines Bettes zur Nacht, sondern über das „Wie“ seiner Schlafzimmereinrichtung macht, sind nur schwer ersichtlich.

Flüchtet die Literatur nicht aus dem Leben der Mittelschicht (die gerade amerikanische Autoren zeitgleich durchaus zu inspirieren scheint), so misslingt die Darstellung des alltäglichen Lebens oft aus einem etwas überraschenden Grunde: Die Verachtung des Bohémiens für den Bürger ist weder neu, noch war das 19. Jahrhundert frei von diesem Dünkel. Allerdings scheint es den Autoren jener Jahre besser gelungen zu sein, der Kraft ihrer Worte vertrauend, auf übertreibende, ihren Gegenstand verzeichnende Darstellungen zu verzichten. Dem gegenüber entspricht die Darstellung des Alltagslebens der letzten Jahrzehnte und der unmittelbaren Gegenwart keineswegs der Realität, noch sind die Protagonisten so flach, so dumm oder so brutal, wie dies die Gegenwartsliteratur nahelegt. Ob hier Unerfahrenheit oder schlichte Arroganz die Quelle der Fehldarstellung bilden, gehört zu denjenigen Dingen, über die nachzudenken wohl ebenso wenig brächte wie ein paar direkte Fragen.

Dieses etwas eigenartige Verhältnis zur bürgerlichen Realität führt zu sonderbaren Konsequenzen: Da der Held einer tragischen Liebesgeschichte offenbar nicht Mitarbeiter der Schadensabteilung einer Versicherung sein darf, und die erfolgreiche Umsetzung einer Firmenfusion keinen Gegenstand von Romanen bildet, spielt ein guter Teil der Gegenwartsliteratur in einer Welt, die es so nicht gibt. Die Einbettung in eine vollkommen künstliche oder schlicht nur angedeutete Umgebung enthebt den Autor der Notwendigkeit, eine realistische Darstellung der Welt zu liefern, wie sie aussieht, wie sie riecht und schmeckt, und wie diejenigen, die sich in ihr bewegen, denken, wie sie lieben, was sie ärgert, und wie sie sprechen. Das in der deutschen Kunstprosa der Gegenwart gesprochene Idiom ist vollkommen artifiziell.

Im Ergebnis findet eine Dokumentation des Alltagslebens, wie sie für das 19. Jahrhundert mit einer fast beängstigenden Lückenlosigkeit existiert, nicht mehr statt: Die ernste Literatur, die auf Kritiken und Preise schielt, will ihre Kunstfertigkeit nicht auf das Leben der Mehrheitsgesellschaft verschwenden. Die Unterhaltungsliteratur ist, soweit ich sie kenne, dazu nicht in der Lage. Die Tragik, die Ambivalenz und das ganz normale Leben des Bürgers dieser Tage findet damit keinen Niederschlag in der anspruchsvollen zeitgenössischen Literatur, die den Wunsch, ihre Zeit abzubilden, aufgegeben zu haben scheint zugunsten eines Anspruchs, der viel mit Artistik zu tun hat, und wenig, will mir scheinen, mit dem Wille, uns aufzubewahren mit unseren Abenteuern, unseren Träumen, unseren Fehlern und Verbrechen und dem, was unsere Tage tatsächlich füllt, und so wird unsere Welt mit uns sterben.



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