Donnerstag, 6. Dezember 2007

An einen anderen Ort

Den Busbahnhof habe ich behalten, die Schmutzigkeit der Bänke, die paar Trinker vor dem Kiosk, in dem eine dicke Frau mit rotem Gesicht eine Bierdose nach der anderen über den Tresen reichte. Alle Gespräche aber habe ich vergessen, auch, ob ich überhaupt versucht hatte, ihn abzuhalten, ihn wieder mitzunehmen, und sogar, ob ich ihn gefragt habe, wieso er weg wollte, und nicht wieder nach Haus.

Ich selbst wollte nicht weg. Mir ging es ja gut da. Nur kalt war mir, glaube ich, obwohl es erst Oktober war. „Mach es gut.“, habe ich wahrscheinlich gesagt. Und wohl auch: Schreib mir. Aber ob er geantwortet hatte oder wenigstens genickt, und wohin er eigentlich wollte, das habe ich alles vergessen.

Weit sollte er auch nicht kommen. Am nächsten oder übernächsten Busbahnhof, den der Überlandbus anfahren sollte, hatten sie ihn schon, ganz ohne mein Zutun, und ich war – glaube ich – erleichtert, dass es so gekommen war und nicht anders. Eine Woche später ging er wieder zur Schule, und glaubte mir nur so halb, dass ich es nicht war, die ihn hatte auffliegen lassen.

Vielleicht glaubt er immer noch, dass ich es war, aber er hat mir verziehen. Jedes Jahr schreibt er kurz vor Weihnachten, wie es ihm geht. So wie ich, so wie alle, hat er die kleine Stadt verlassen. Als einer der wenigen ist er ganz weit weg gegangen, nicht nur bis München, Wien, Köln oder Berlin. Alle paar Jahre zieht er um, in ein anderes Land, und einen Beruf hat er, der ihm dies erlaubt, und es vielleicht sogar fordert.

Eine Frau hat er auch, lese ich, jüngst geheiratet, und bald wohl auch ein Kind. Ob er ein schönes Leben hat, weiß ich nicht, denn wenn er unglücklich sein sollte, so wird er mir dies nicht schreiben.

Ich selbst will nicht weg. Mir geht es gut hier. Nur kalt ist mir, heute und alle Tage, solange der Winter währt, und – anders wohl als er – weiß ich, dass ganz weit weg nichts besser wird, und alles, was andernorts auf mich wartet, nicht größer, schöner oder strahlender wäre als hier, denn dies ist wohl alles, was mir zugemessen ist, hier oder woanders.



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