Freitag, 19. Juni 2009

Journal :: 18.06.

„Die Studienbedingungen werden immer schlechter.“, ereifert sich mein kleiner Cousin telefonisch, und ich blättere auf dem Dortmunder Bahnhof gelangweilt in der Zeitung. Jaja, denke ich. Das werden sie schon immer, ohne dass dies den Absolventen, soweit ich das beurteilen kann, abträglich wäre. Ganz im Gegenteil werden die Praktikanten und Referendare, die ich in den letzten Jahre treffe, immer jünger zum Zeitpunkt der Prüfung, fleißiger und engagierter, wissen wesentlich mehr über den Lehrstoff als ich im selben Alter, und vor allem wissen sie geradezu unheimlich genau, was sie einmal werden wollen mit vierzig oder fünfzig oder so. Ich wusste noch Jahre nach meinem Examen nur sehr unvollkommen, was am Ende dabei herauskommen sollte. Meine beiden Praktika habe ich mehr zufällig ausgewählt, weil es sich gut anhörte und ich vor Ort noch nie war, und über den richtigen Job bin ich eher gestolpert.

Die verordnete Zielstrebigkeit eben aber sei das Problem, wütet mein kleiner Cousin weiter. Wer heute studiere, könne sich wegen der engen zeitlichen Korsetts keinerlei Phasen des Suchens, Grübelns und wahrhaften Studierens mehr leisten, nur fertig werden heiße es, und der Scheinerwerb habe als Ziel der ganzen Veranstaltung die Bildung längst verdrängt. Möglicherweise – nein: wahrscheinlich – werde man so Bachelor von irgendwas, aber gebildet werde man so nie.

„Darum geht es ja auch nicht.“, wende ich ein und ernte Entrüstung. Wo, werde ich hörbar rhetorisch gefragt, solle man Bildung erwerben, wenn nicht an der Uni. „Was weiß denn ich.“, antworte ich, die ich auf Bildung allerdings auch maximal mittelmäßig viel Wert lege. Irgendwo. Zuhause von mir aus, wenn man meint, dass man das braucht. Die Uni aber ist für den Erwerb von Bildung der eindeutig falsche Ort. Am anderen Ende der Leitung schnappt mein kleiner Cousin hörbar nach Luft. „Lass mich mal ausreden.“, sage ich und hebe an:

Ein normal gebildeter Mensch verfügt über einen gewissen Kanon von Dingen, die er einfach weiß. Die sichtbaren Merkmale gotischer Kirchen gehören ebenso dazu wie eine ungefähre Vorstellung, was Kant von Hegel unterscheidet. Der ordnungsgemäß gebildete Mensch hat vermutlich Krieg und Frieden gelesen, er kennt den Faust und den Zug der Zehntausend. Er weiß, wieso der Spanische Erbfolgekrieg ausbrach, wie die Jakobssöhne heißen, wie die Römische Republik regiert wurde und kann halbwegs exakt den Verlauf der Französischen Revolution beschreiben. Wenn ihm jemand Bach vorspielt, erzählt er etwas von Orgeln und Protestantismus, und dort, wo seine Bildung Lücken aufweist, hat er zumindest mit ein paar hoffentlich amüsanten Anekdoten aufzuwarten.

Spezialistenwissen aber gehört nicht zu dem, was man unter Bildung versteht. Vertieftes Spezialistenwissen, wie es etwa in Doktorarbeiten zum Ausdruck kommt, kann sich jeder normale Mensch in relativ kurzer Zeit aneignen, und vergisst es ebenso schnell. Thomas Mann etwa, entnehme ich der Mendelssohn-Biographie, habe kaum etwas dauerhaft und abrufbar gewusst, sondern sich etwa sein gesamtes ägyptologisches Wissen anlässlich der Josephs-Romane angelesen, und nach Beendigung derselben alles sofort wieder vergessen, ohne dass diese Vorgehensweise dem Romancier oder seinen Romanen erkennbar geschadet habe.

An einer Uni aber wird Spezialwissen gelehrt und eine ebenso spezielle, jeweils fachbezogene Methodologie, die man vielleicht beherrschen sollte, wenn man im jeweiligen Fach reussieren will. Um als gebildet zu gelten – wie erstrebenswert das auch immer sein mag – braucht man diese Kenntnisse und Fähigkeiten aber nicht. Nicht einmal für die meisten Berufe benötigt man die Fertigkeiten, die man an der Uni lernt. Wenn man überhaupt etwas Sinnvolles lernt, wenn man studiert, dürfte also weniger Bildung erworben werden. Vielmehr lernt man vielleicht weniger durch das Studium als anlässlich eines Studiums. Sich selbst zu organisieren etwa. Den Aufbau von Netzwerken, also halb professionellen, jedenfalls nützlichen Bekanntschaften, von denen die meisten Menschen ihr halbes Leben profitieren. Es sich ohne Zutun der Eltern zu richten, wenn man etwas haben möchte, was es nicht selbstverständlich gibt. Das ganz individuell richtige Verhältnis der Wertigkeiten von Komfort und Karriere.

Am anderen Ende der Leitung bleibt es still. Dann beginnt mein Cousin zu sprechen. Bodenlos sei das, ebenso zynisch wie unzutreffend, und passe zu einer Person, die oberflächlich zu nennen fast schon zu viel der Ehre sei, denn treffe zu, was ich behaupte, dann sei ein Studium im Grunde obsolet, auch ganz und gar ohne Universität könne man die von mir behaupteten Fähigkeiten erwerben, etwa durchs Herumreisen oder –lungern. Hätte ich recht, so könnte man auch jedem Menschen zwischen 20 und 25 einen Bibliotheksausweis in die Hand drücken und ihm viel Spaß wünschen die nächsten Jahre. „Fast.“, sage ich und lache ein bisschen über den Kleinen. Um ein Haar. Denn eins jedenfalls erwirbt man an der Uni, und nirgendwo sonst. „Und was soll das sein, wenn nicht Bildung?“, werde ich halb unwillig gefragt.

„Einen Abschluss.“, sage ich und lege auf, denn in zwei Minuten kommt mein ICE nach Berlin.



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