Dienstag, 28. Juli 2009

Time Will Not Be Ours Forever

Morgens musste ich erst um acht erscheinen, wenn die Schwestern seit Stunden die alten Frauen wuschen und fütterten. Bei Tisch war ich ungern dabei, weil ich mich vor den zahnlosen Mündern ekelte, auch vor dem Speichel, aber mich nicht traute, dass zu sagen. Immerhin war ich hier, weil meine Mutter meinte, einmal im Leben müsse man so etwas tun.

Mit der Zeitung ging ich von Raum zu Raum und las der Handvoll alter Frauen, die noch nicht dement waren, vor. Die alte Frau S. ließ mich auf dem Klavier vorspielen, um ein bißchen unterrichten zu können, und erzählte von den vierzig Jahren als Klavierlehrerin. Die noch ältere Frau H. mochte die Zeitung nicht, aber Liebesromane und bekam jeden Morgen ein Kapitel. Fast alle alten Frauen (alte Männer gab es hier kaum) schenkten mir Süßigkeiten oder Handarbeiten, und erzählten gern von ihren Enkeln. Die meisten waren etwas älter als ich, studierten irgendwo, oder waren schon fertig und hatten selber Kinder. Ihre Bilder standen ordentlich gerahmt auf den Nachttischen oder Kommoden.

Neben den Kindern und Enkeln stand das Hochzeitsbild. Erstaunlich hübsch waren die alten Frauen einmal gewesen: Blanke, von der Zeit leergewaschene Gesichter in schwarz-weiß. Schleier, Blumensträuße, junge Männer in Hochzeitsanzügen. Keine der alten Frauen sah ihrem Hochzeitsbild auch nur ähnlich. Manchmal suchte ich in den zusammengesunkenen Gesichtern nach den jungen Frauen und wurde nie fündig.

Fast keine der Frauen wurde oft besucht. Fast niemand täglich angerufen. Selten kamen Briefe. Die alten Frauen waren einsam, manche weinten ab und zu, wenn sie erzählten, und manche waren über ihrem schweren Leben bösartig geworden, ungerecht und gefürchtet bei den Schwestern. Vieles, was sie erzählten, klang nach unerfüllten Wünschen und Chancen, die es nie gab. Die Schwestern wiederum waren grob, wenn keiner hinsah, stumpf, und obwohl sie jung waren, wirkten sie verbraucht und so, als werde da kein neuer Anfang mehr folgen. Mich schauderte, wenn ich das Altenheim verließ, und als ich mich verabschiedete, feierte ich die ganze Nacht wie eine Entronnene, trank viel zu viel und küsste den J.2, obwohl wir damals eigentlich fertig waren miteinander, aber sonst war keiner da. So würde es nie enden mit mir, versprach ich am nächsten Morgen meinem Spiegelbild und dann zog ich aus. Vierzehn Jahre ist das her.

Ein bißchen herumgezogen bin ich in der Zwischenzeit. Ziemlich lange war ich an der Uni, erst als Studentin und dann noch ein paar Jahre danach. Viel gearbeitet habe ich, vielleicht zu viel, aber die alten Frauen werden nicht weniger gearbeitet haben als ich. Geheiratet habe ich nicht und keine Hochzeitsbilder für den Nachttisch. Nie habe ich mich für andere aufgerieben, wie die alten Frauen für ihre Männer und Kinder und Enkel, und so lebe ich ein Leben, das weit genug weg ist von dem, was ich niemals wollte, doch enden (das weiß ich manchmal) werde ich wohl nicht anders: Als eine alte Frau im Heim, entstellt von den vielen Jahren, ein wenig einsam, zu selten angerufen, und voll Bedauern um ein Leben, das ich hätte führen können und nicht geführt habe, weil mir zu spät einfallen wird, was ich hätte lassen oder tun sollen, um glücklich gewesen zu sein, oder weil ich es bisweilen weiß, aber nichts daraus mache, aus Feigheit, aus Dummheit, aus Bequemlichkeit oder aus Rücksichtnahmen auf etwas, das ich vergessen haben werde, weil es unwichtig sein wird, später einmal und kurz vor Schluss.



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