Donnerstag, 6. Dezember 2012

Die drei Phasen der Erkältung

Phase 1 - Sibirien

Phase 1 geht unspektakulär los: Eine Frau sitzt an einem Schreibtisch.

In dem Raum, in dem die Frau sitzt, ist es bullig warm. Auf dem Tisch schwitzt eine Orchidee. Ein Dutzend Akten auf und unter dem Besprechungstisch japst nach Luft. Manche Büroklammern haben Ausreiseanträge nach Grönland gestellt. Die Frau aber friert: Trotz der tropischen Temperaturen trägt sie einen wolligen Shawl. In den Händen hält sie eine dampfende Tasse Pfefferminztee. Aus den grobgestrickten Ärmeln ihrer Jacke ragt ein halber Zentimeter Gänsehaut.

Abends legt sich die Frau in die Wanne und dreht das heiße Wasser auf. Langsam hört sie auf zu zittern. Die Frau ist rot wie ein Hummer, im Badezimmer rinnen dicke Trocken Kondenswasser die Wände herab, aber der Frau ist immer noch ein bißchen kalt. Im Schlafzimmer friert sie erst recht. Das Thermometer zeigt 37,8° C. Heute schläft die Frau in einem Jogginganzug, und nachts steht sie irgendwann auf und holt sich ein Extrapaar Socken.

Phase 2 - Kunstharz

Am nächsten Morgen ist die Frau aus Sibirien wieder zurück. Allerdings machen lange Reisen müde. Die Frau ist schwach und ganz zitterig auf den Beinen. Ihre Haut ist ausgesprochen berührungsempfindlich. Ihr Kreislauf findet heute nur bis zur Höhe der Knöchel statt. "Du willst doch nicht etwa ins Büro?", hört sie eine dünne, leise Stimme sehr weit weg. Sie dreht sich um. Direkt vor ihr steht der J. und schickt sie wieder ins Bett. Folgsam legt sie sich wieder hin und schläft sofort ein.

Als sie wieder aufwacht, sind sechs Stunden vergangen. Nach wie vor ist die Welt sonderbar geräuschlos. Sie riecht auch nach nichts. Außerdem ist der Kopf der Frau so schwer, wie an anderen Tagen ein ganzes Bein. Das alles ist sehr irritierend für die Frau, die immer noch den Jogginganzug von gestern trägt. Erst nach einem weiteren Schläfchen kommt sie auf die schlichte Wahrheit: Ihr Kopf ist über Nacht ausgegossen worden. Ausgegossen mit Kunstharz.

Phase 3 - Panta Rhei


Am Tag darauf hat es geschneit. Es sieht schön aus draußen. Die Frau will durch den wirbelnden Schnee zur Arbeit gehen, und nur die besorgten Blicke des J. halten sie davon ab. Sie bestellt sie statt dessen ein Taxi.

Im Taxi dann öffnen sich die Quellen des lebensspendenden Nils. Auf den sieben Euro bis ins Büro verbrauche ich zwei eigene Taschentücher und drei Kleenex aus einer Dose, die der Taxifahrer hilfreich reicht, weil er Angst hat, die Ausscheidungen aus der Nase der Frau könnten ihn ansonsten ertränken oder zumindest seine Ledersitze untragbar verunreinigen.

Den ganzen Tag über verbraucht die Frau mehrere Kilo Tissue. Sie trinkt vier Kannen Tee, isst dafür endlich einmal wie ein Spatz (okay: wie ein sehr großer Spatz), und schleppt sich abends müde und schniefend die 20 Minuten zu Fuß nach Hause.

Wenn keiner hinschaut, zieht sie die Nase hoch, um nicht alle zwanzig Minuten ein neues Taschentuchpäckchen aus der Kammer holen zu müssen. Heute nacht wird sie vermutlich das Kopfkissen mit einem Plastikbezug schützen. Ab und zu geht sie ins Bad und schaut in den Spiegel. Sie sieht es ganz deutlich: Rudolph the red-nosed reindeer ist keine Fama.

Heute nacht schläft die Frau vemrutlich wieder allein. Der J. verzieht sich in die hinterletzten Winkel der Wohnung. Der F. wird vermutlich im Laufe der Nacht auf dem Bauch hinter ihm her robben, um ungestört schlafen zu können. Nur die Frau, die Frau selbst liegt mit offenem Mund auf dem Rücken und japst im Shlaf nach Luft, umgeben von einer grünklich schillernden Wolke fröhlich tanzender Viren.



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