Mittwoch, 1. August 2007

Karlsbader Notizen (2)

III.

Die Spuren der in den letzten Jahrzehnten angerichteten Verwüstungen sind auch im Hotel nicht zu übersehen. Zwar sind die Gesellschaftsräume – der herrliche Speisesaal mit seinen apart nachgedunkelten Gemälden, und die Halle in dem für Hotelbauten des 19. Jahrhunderts charakteristischen anglisierenden Stil – im Wesentlichen unversehrt und entsprechen, ausweislich einiger Photographien an den Wänden, ungefähr der Gestaltung zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Für die Zimmer gilt dies allerdings nicht im selben Maße.

Erkennbar stand zwar der Wunsch nach einer Annäherung an die versunkene Grandezza der Hotelpaläste der Belle Epoque Pate bei der Neugestaltung, die nach 1990 vollzogen wurde. Tatsächlich ist dort, wo der Boden der Konvention aus dunklem, polierten Holz, Chintz und den beruhigenden Farben englischer Wohnzimmer nicht verlassen wird, dieses Vorhaben als im Großen und Ganzen gelungen zu betrachten. Allerdings zeugen Nuancen von der ästhetischen Katastrophe des real existierenden Sozialismus. Ein vollkommen verdorbener Farbensinn etwa, der für den fleischfarbenen Grund einer an und für sich unbedenklich geblümten Tapete verantwortlich sein muss. Die Bodenbeläge der Flure, auf die die Imitation eines persischen Läufers aufgedruckt zu sein scheint, und die in einem abstrusen Gegensatz zu der Pracht der vielleicht etwas zu sorgfältig restaurierten Stuckatur steht, und – rührend possierlich – eine kleine Topfpflanze mit dicken, gummiartigen Blättern auf einem viktorianischen Blumenschemel zur Seite meines Bettes: All dies erinnert an eine Dame in Abendgarderobe, aufwendig frisiert mit sorgfältig gewähltem Schmuck, deren Füße in rosa Gesundheitslatschen aus Plastik stecken und die sich nicht im Geringsten für diese Entgleisung schämt.

IV.

Woher wissen eigentlich die anderen Leute, was ihnen zuträglich ist, frage ich mich und sehe mich um. Vor und innerhalb der Kolonnaden sitzen und stehen Menschen jeden Alters – sogar ein paar Kinder sind dabei – und trinken langsam und andächtig aus den geschwungenen Tüllen ihrer Karaffen. Warm ist das Wasser, salzig und ein wenig bitter, und entbehrt gänzlich jener Frische, die man normalerweise mit Quellen assoziiert. Für einen Moment frage ich mich, ob der gute Ruf des Karlsbader Wassers nicht möglicherweise gerade auf seinem wenig ansprechenden Geschmack beruht, was, wie man weiß, die Wirksamkeit von Medikamenten in der menschlichen Vorstellungskraft erhöht.

Wie viel Wasser trinkt man täglich richtigerweise, wenn man eigentlich, sinniere ich, gar nichts hat, abgesehen vielleicht von einer gewissen Nervosität. Gibt es irgendwo Anleitungen, wie eine ordentliche Wasserkur auszusehen hat? Sollte, müsste oder könnte man zumindest einen Badearzt konsultieren, oder ist hier jeder seiner eigenen Wasserkur Schmied?

Dienstag, 31. Juli 2007

Karlsbader Notizen (1)

I.

Die Brücke zur Innenstadt, behauptet der Taxifahrer, sei gesperrt, und fährt sehr, sehr langsam in weitem Bogen um die Stadt. Der uralte Mercedes keucht und stöhnt wie ein Droschkengaul, und sogar der Plüschlöwe am Rückspiegel macht einen sonderbar angestrengten Eindruck, als sei das Baumeln eine schwierige und strapaziöse Angelegenheit.

Es sei langweilig hier für junge Leute, behauptet der Taxifahrer und zählt abfällig ein paar Adressen auf. Nichts für junge Frauen, beeilt er sich hinzufügen und zündet sich eine weitere Zigarette an ihrer heruntergebrannten Vorgängerin an. Nach Prag könne er mich fahren, bietet er an. Eine Stunde. € 100,--. Ich könne einkaufen, er würde warten und führe mich nach dem Einkaufen wieder nach Karlsbad zurück. – „Nein?“, fragt er nach, als habe er mein Kopfschütteln falsch verstanden, und sein Angebot sei nichts, was man ablehnen könne.

Nein, beharre ich, und enttäuscht verstummt der Taxifahrer. Erst auf der Auffahrt des Hotels richtet er wieder das Wort an mich. Wann ich zurückfahre, will er wissen. Er hole mich ab. Lächelnd schüttele ich den Kopf. Verstimmt bleibt der ältere, etwas formlose Mann hinter dem Lenkrad sitzen und überlässt es einem ältlichen Pagen, mein Gepäck aus dem Kofferraum zu holen.

II.

In der Hotellobby bin ich der einzige Gast. Überhaupt atmet das Hotel eine leichte nachsaisonhafte Melancholie, die ich mir mitten im Sommer nicht recht erklären kann. Es scheint kaum Gäste zu geben, stetig sitzen die selben beiden Araber mit imposanten Schnauzbärten in der Lobby, sehen konzentriert fern und rauchen schlanke, etwas affektiert wirkende, schneeweiße Zigaretten. Außer den beiden Lobbydauergästen sehe ich ein paar lautlose, japanische Familien, eine tief verschleierte Frau mit einem ebenfalls verschleierten Kind an der Hand, und ein paar sportliche Deutsche in farbenfroher North Face Wanderbekleidung stramm durch die Hotellobby marschieren.

An der Rezeption stehen zwei magere, hochgewachsene Mädchen, ein wenig zu blondiert für ihre rosigen Gesichter und lächeln eisern gegen die Leere in der Hotelhalle an. Mit einer etwas militärisch anmutenden Professionalität schlagen die beiden mir den Zimmerschlüssel, verschiedene Vouchers und Broschüren auf den Tresen, als gelte es, Fliegen zu erschlagen und schicken mich in mein Zimmer. „Sie werden sich wohlfühlen!“, schärft mir die Größere der beiden ein, und die andere nickt.

Donnerstag, 26. Juli 2007

Der Urlaub bekommt mir nicht

10.30. Erwacht. Mit geschlossenen Augen liegen geblieben. Letzte Reste reger Traumtätigkeit suggerieren den Aufenthalt in einem Bahnabteil, das ich ohne Geld verlassen muss. Furchtbarer Hunger. Im Traum einen Markt aufgesucht, wo ein freundlicher Basarverkäufer mir kostenlos spitze, metallisch glänzende, stricknadeldünne Fische freigebig in eine Plastiktüte füllt. Hätte ich Geld dabei, könnte ich selber wählen und Fleisch kaufen statt der wenig verlockenden Fische, ärgert sich mein Traum-Ich und zieht mit der Fischtüte ab.

Sollte ich mehr Fisch essen, frage ich mich beim Erwachen. Heute Forellen, beschließe ich und taste nach meiner Brille.

11.15. Der Käse von Kaufhof taugt wieder nichts. Aus der Mitte des Käses bröckeln mir unregelmäßige Bruchstücke des Brie de Meaux entgegen. Künftig ins Lafayette. Nach kurzer Überlegung, den Käse im Backofen zu erwärmen, um dem Gekrümel ein Ende zu machen, missmutiger Verzehr.

11.45. Mir ist langweilig. Lese ungefähr zehn Seiten einer Biographie und weitere zehn Seiten eines Romans, dessen Titel mehr verspricht, als der Inhalt zu halten in der Lage ist. Zärtliche Betrachtung des ansehnlichen Stapels jüngst erworbener Bücher. Sodann spontane Irritation: Auf der Hälfte aller aktuell vertriebener Bücher, ob Klassiker oder modern, prangt eine Empfehlung der unsäglichen Frau Elke Heidenreich. Künftig nur noch Antiquariate.

13.00. Vielleicht doch kein Fisch? Lebhafte Schnitzelvisionen.

13.30.
Verschiedene Bekannte bei Google eingegeben. Alle sind promoviert, nur ich nicht.

14.15. Öffne mehrmals meine Dissertation und schließe das Dokument wieder. Du hast doch Urlaub, sage ich mir und setze mich demonstrativ aufs Sofa. Tu doch einfach mal nichts, denke ich und stelle mich vor den Spiegel. Nichtstun, sage ich laut. Regeneration. Bewusste Untätigkeit! Müßiggang! – Nichts hilft.

14.30. Neurasthenie. Reibe immerzu Daumen und Zeigefinger aneinander und klopfe ab und zu mit Zeige- und Mittelfinger der linken Hand gegen mein Kinn. Rückkehr ins Bad. Beim Versuch, Badewasser einzulassen, den Stöpsel abgebrochen, mit dem man den Austrittsort des Wassers einstellen kann. Nun fließt das Wasser nur noch aus dem Hahn. Auch egal, sage ich ein paarmal laut und zerbrösele das letzte Drittel eines festen, ölkreideartigen Badezusatzes, den der J. mir geschenkt hat. Es riecht nach Cassis.

14.15. Interessierte Betrachtung meiner Fingerkuppen. I am the walrus!, konstatiere ich und entsteige der Wanne. Wiederholte Inspektion, ob wirklich körperlich symmetrisch beschaffen. Negativer Befund.

14.30. Das ungute Gefühl, die Körperwahrnehmung rage jeweils etwa einen Zentimeter über den eigentlichen Körper hinaus.

15.00. Nach Jahren wieder längere T-Shirts. Ist das wirklich kleidsam? Sehe ich übermäßig kurzbeinig aus? Oder ist das in meinem Alter schon egal?

15.15.
Wozu das alles noch. Lebenskrise auf dem Fahrrad zwischen Kastanienallee und Hamburger Bahnhof.

16.15. Die modernen Kunstwerke gefallen mir nicht. Erneutes Bewusstsein bestürzender Konventionalität. Von mir aus hätten sie 1950 aufhören können mit Malen, formen sich wahrhaft banausische Gedanken und drücken von Innen gegen meine Zähne. Mühsam geschwiegen, um keinen merkwürdigen Eindruck zu hinterlassen bei A.`s Freundin, die mich nicht kennt.

17.15. Freude über die spontane Produktion einer Empfindung angesichts eines verstümmelten, ausgestopften Pferdes. Immerhin. Ekel funktioniert noch.

17.45. Präparatensammlung. Wird den anderen Leuten hier eigentlich nicht übel? - Die waren schon vorher tot!, beruhige ich mich angesichts der missgebildeten Föten mit übergroßen Köpfen oder ohne Gehirn mit ganz eingedrückter Hirnschale. Optisch äußerst eindringliche Vorstellung meiner selbst in einem riesengroßen Gurkenglas, nackt, vor dem Schulklassen stehen und lachend auf meine Hüften zeigen. Die fette Frau, kreischt es vielstimmig in meiner Vision. Magere Mädchen schlagen sich stolz auf ihre fleischlosen Bäuche.


18.30. Jetzt von einer Wespe gestochen werden und einfach sterben, denke ich und zähle die grell-gelben Streifen auf dem Leib des Insekts, das abwechselnd um das Glas Fassbrause meiner Nachbarin und um meinen Pfefferminztee herumfliegt, unschlüssig, wer allergischer ist.

19.30. Fisch. Ich hätte Schnitzel kaufen sollen.

20.00. Alles sinnlos. Kurze Versuchung, meine gesamte Dissertation einfach zu löschen. Leider liegt eine erste Fassung (eine vorläufige Fassung, sage ich mir) meinem Doktorvater bereits vor und hat ihm gefallen.

22.00. Grundlegende Umwälzungen. Gliederung umgestellt. Andere Ergebnisse. Diese Dissertation ist noch zu retten, sage ich mir mehrmals nachdrücklich vor. Heute, morgen, übermorgen, plane ich die erste Hälfte meines restlichen Urlaubs.

24.00. Mir geht es gut, bekräftige ich und ziehe ein paar Fratzen vor dem Spiegel.

Morgen vielleicht Schnitzel.

Sonntag, 22. Juli 2007

Das tägliche Leben

tua res non agitur

Von keiner europäischen Epoche, will mir scheinen, ist unsere Vorstellung so präzise wie von den knapp 150 Jahren zwischen dem Aufstieg Napoleons und dem Tod Adolf Hitlers. Dies mag zum einen an den technischen Möglichkeiten der Dokumentation liegen. Überdies fördert die zeitliche Nähe und die massenhafte Existenz von Zeitzeugnissen in Form von Tagebüchern, Briefen etc. aus so gut wie allen europäischen Regionen und Gesellschaftsschichten unsere Vorstellung, wie das Leben der Menschen tatsächlich verlaufen sein muss. Zu einem nicht geringen Teil aber beruht unsere Kenntnis dieser Jahrzehnte auf der Präzision ihrer Literatur.

In jenen Jahren, so wissen wir, gelangt der Roman zu einer seither kaum mehr übertroffenen Meisterschaft, die Gegebenheiten des äußeren Lebens mit einer Genauigkeit abzubilden, die es uns ermöglicht, den Speiseplan einer Lübecker Kaufmannsfamilie ebenso nachzuvollziehen wie die genauen Umstände des Aufstiegs eines französischen Journalisten, die Urlaubsgewohnheiten einer Wiener Arztfamilie oder die Art und Weise, wie ein russischer Aristokrat Weihnachten feiert. Wir wissen, welche Vorbereitungen ein Ball in der britischen Provinz erfordert. Wir kennen aber auch nicht minder die Ängste eines Pragers Angestellten, die Inkonsequenzen einer Gesellschaft, die eine russische Dame am Ende unter die Eisenbahn bringen, und hören den Lügen dieser Epoche ebenso zu wie ihren Witzen, ihren Wahrheiten, ihren Traurigkeiten und ihrem Tod. Wir sind, mit einem Wort, mit dem alltäglichen Leben des Bürgers des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. in hohem Maße vertraut.

Mit dem Krieg, mit der Gruppe 47 vielleicht, vielleicht auch noch später, hört die deutschsprachige Literatur langsam erst, dann schneller auf, das alltägliche Leben zu beschreiben. Es scheint, als ob insbesondere das Leben des Durchschnittsbürgers stark an Interesse für diejenigen verloren hat, die es zwar meist – dem eigenen Herkommen nach – kennen müssten, es zu beschreiben aber wenig Liebe zeigen. Spielt ein Roman doch einmal in der Welt der dauergewellten Vorzimmerdamen, der rheinischen Notare oder der Sachbearbeiter in einer großen Behörde, so scheinen die Autoren ihrem Sujet nie ganz zu trauen.

Nun gibt es sicherlich keinen Grund, die Welt eines badischen Hosenfabrikanten langweiliger zu finden, als die Welt der vermutlich überaus banalen Madame Bovary. Gleichwohl flüchtet die Literatur entweder in die vermeintlich pittoreske Welt an den Rändern der Gesellschaft, die – so meine Vermutung – keinesfalls so beschaffen sein kann, wie sie in den Romanen insbesondere der letzten drei Jahrzehnte auftaucht. Das Leben auf der Straße mag des Erzählens wert sein – Gründe, es interessanter, reicher oder vielschichtiger zu finden als das Leben desjenigen, der sich Gedanken nicht über das „Ob“ eines Bettes zur Nacht, sondern über das „Wie“ seiner Schlafzimmereinrichtung macht, sind nur schwer ersichtlich.

Flüchtet die Literatur nicht aus dem Leben der Mittelschicht (die gerade amerikanische Autoren zeitgleich durchaus zu inspirieren scheint), so misslingt die Darstellung des alltäglichen Lebens oft aus einem etwas überraschenden Grunde: Die Verachtung des Bohémiens für den Bürger ist weder neu, noch war das 19. Jahrhundert frei von diesem Dünkel. Allerdings scheint es den Autoren jener Jahre besser gelungen zu sein, der Kraft ihrer Worte vertrauend, auf übertreibende, ihren Gegenstand verzeichnende Darstellungen zu verzichten. Dem gegenüber entspricht die Darstellung des Alltagslebens der letzten Jahrzehnte und der unmittelbaren Gegenwart keineswegs der Realität, noch sind die Protagonisten so flach, so dumm oder so brutal, wie dies die Gegenwartsliteratur nahelegt. Ob hier Unerfahrenheit oder schlichte Arroganz die Quelle der Fehldarstellung bilden, gehört zu denjenigen Dingen, über die nachzudenken wohl ebenso wenig brächte wie ein paar direkte Fragen.

Dieses etwas eigenartige Verhältnis zur bürgerlichen Realität führt zu sonderbaren Konsequenzen: Da der Held einer tragischen Liebesgeschichte offenbar nicht Mitarbeiter der Schadensabteilung einer Versicherung sein darf, und die erfolgreiche Umsetzung einer Firmenfusion keinen Gegenstand von Romanen bildet, spielt ein guter Teil der Gegenwartsliteratur in einer Welt, die es so nicht gibt. Die Einbettung in eine vollkommen künstliche oder schlicht nur angedeutete Umgebung enthebt den Autor der Notwendigkeit, eine realistische Darstellung der Welt zu liefern, wie sie aussieht, wie sie riecht und schmeckt, und wie diejenigen, die sich in ihr bewegen, denken, wie sie lieben, was sie ärgert, und wie sie sprechen. Das in der deutschen Kunstprosa der Gegenwart gesprochene Idiom ist vollkommen artifiziell.

Im Ergebnis findet eine Dokumentation des Alltagslebens, wie sie für das 19. Jahrhundert mit einer fast beängstigenden Lückenlosigkeit existiert, nicht mehr statt: Die ernste Literatur, die auf Kritiken und Preise schielt, will ihre Kunstfertigkeit nicht auf das Leben der Mehrheitsgesellschaft verschwenden. Die Unterhaltungsliteratur ist, soweit ich sie kenne, dazu nicht in der Lage. Die Tragik, die Ambivalenz und das ganz normale Leben des Bürgers dieser Tage findet damit keinen Niederschlag in der anspruchsvollen zeitgenössischen Literatur, die den Wunsch, ihre Zeit abzubilden, aufgegeben zu haben scheint zugunsten eines Anspruchs, der viel mit Artistik zu tun hat, und wenig, will mir scheinen, mit dem Wille, uns aufzubewahren mit unseren Abenteuern, unseren Träumen, unseren Fehlern und Verbrechen und dem, was unsere Tage tatsächlich füllt, und so wird unsere Welt mit uns sterben.

Sonntag, 15. Juli 2007

Das Mückenmahl

Ganz generell kann man ja froh sein, dass die Evolution einen nicht erwischt hat, als ihre Pranken noch mächtiger waren, als dies heute der Fall ist, und die natürliche Auslese mich nicht zu Zeiten aussortiert hat, als Kurzsichtigkeit, Schwerhörigkeit und die Unfähigkeit, sich im dreidimensionalen Raum zurechtzufinden, noch ausgereicht hätten, mich noch im Kindesalter von einem Bären fressen zu lassen, oder schlicht beim Beerensammeln verloren zu gehen und nie wieder nach Hause zu finden. Ein weiterer Umstand hätte mein Überleben in der Urgesellschaft vermutlich durchaus schwierig gestaltet: Wo ich bin, sind Mücken, wo Mücken sind, wird man gestochen, und wer gestochen wird, riskiert in den feuchten Mooren der Urzeit gefährliche Infektionen und einen baldigen Tod.

Dies immerhin dräut nicht hierzulande, wo weit gefährlicher als der Tod durch Malaria der Tod durch wildgewordene Autofahrer sein dürfte, und doch erweist sich täglich, dass auch heute die Anziehungskraft auf Stechmücken einen echten Nachteil im harten Überlebenskampf darstellt, welcher, wie man weiß, aktuell eher auf Straßen und in Büros stattzufinden pflegt als in den dichten Wäldern der Urzeit.

Komplett zerschlagen nämlich, müde wie eine junge Mutter, mit Ringen unter den Augen, die vom Umfang her fast Untertassen gleichen, und verbeult wie ein Opfer der pestis bubonis, sieht der geneigte Passant eine durchaus geräderte Dame auf dem Fahrrad den Alex überqueren, knapp nur sieht sie in letzter Minute die dahinsausenden Gefährte motorisierter Zeitgenossen, und dass nicht auf den knapp acht Kilometern zwischen ihrem mückenverpesteten Heim und ihrem nict minder insektenstarrenden Büro die Kraftfahrzeuge ihr den Garaus machen – das, verehrter Leser, ist weniger ihr als dem Glück und der Aufmerksamkeit Dritter zu verdanken. Tief in Gedanken, über den Lenker gebeugt, sieht man sie die Spree entlang radeln, fahrig wedelt sie aus purer Gewohnheit imaginäre Insekten vor ihrem Gesicht nach rechts und links, um sich, wartend an der Ampel, mehrfach herzhaft zu kratzen.

In ihren Ohren saust es von Müdigkeit, alle Mücken der Stadt summen ihr Schlaflieder vor, und dass sie, endlich im Büro angelangt, nicht sofort in Schlaf versinkt: Dies, oh hoffentlich mitleidiger Leser, dies ist ganz allein den Mücken anzulasten, die auch hier, den Fluß vor der Türe, seit Stunden schmatzend vor Begierde, der Ankommenden harren, an ihrem Blute zu saugen, riesengroße Beulen hinterlassend, und nach kurzem Verdauungsschlafe wiederkehrend, in Begleitung natürlich, schwankend vor Völlerei, und so angefüllt mit nahrhaftem Blute, dass sie dort, wo man die eine oder andere mit gezieltem Schlage zerdrückt, spektakuläre Blutflecken hinterlassen.



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