Freitag, 30. Januar 2009

Calling Olimpia

Daniel Kehlmann, Ruhm, 2009, € 18,90

In einer der neun Geschichten dieses schmalen Bandes fällt eine Frau aus ihrem Leben einfach heraus. Auf einer Journalistenreise in eine namentlich nicht genannte Diktatur wird sie wegen eines Planungsfehlers in einem leeren Hotel untergebracht, am nächsten Morgen vergessen, ihr Visum läuft ab, und am Ende verliert sie sich irgendwo im namenlosen Nichts. In einer anderen Geschichte findet ein berühmter Schauspieler nicht in seine Existenz zurück, nachdem ein Doppelgänger seinen Platz eingenommen hat, jemand schickt sich todkrank zum Sterben und wird durch die Gnade seines Schöpfers erlöst, der nicht ein Gott ist, sondern ein Schriftsteller, und so verschwimmen quer durch diese lose verbundenen Episoden nicht nur die Identitäten, diese Kokons vermeintlicher Selbstverständlichkeiten, sondern die Grenze zwischen Existenz und Erfindung selber verliert Bedeutung und Gewicht, wird ebenso biegsam wie bodenlos und lenkt den Blick direkt auf das Prekäre, stets Gefährdete dessen, was uns ausmacht, wenn wir mehr sein wollen als Blut, Fleisch und Knochen.

Ein einziger Anruf, ein unbedachter Ausfallschritt, der Flügelschlag eines weit entfernten Wesens kann uns zerstören, behauptet Kehlmann und illustriert dies mit Beispielmenschen, die umhergehen, telefonieren, sich verlieben, Familie haben, arbeiten, schreiben oder geschrieben werden. Neugierig oft, stets amüsiert folgt man ihren Schritten, sieht ihnen zu, wie sie strampeln, laufen, sprechen, lügen, scheitern und leiden, und klappt nach zwei Stunden „Ruhm“ wieder zu. Als recht angenehm empfiehlt man das Buch seinem geschätzten Gefährten, und doch, meint man, stimme etwas nicht mit diesem Buch, ganz genau könne man nicht sagen, was. Ein Unbehagen mehr als ein Ärgernis. Dann ist es spät und man geht schlafen.

Das ist kein großes Buch, denkt man und legt seine Linsen in die weißen Schalen im Bad. Sicher hat man schlechtere, viel schlechtere Abende mit Büchern verlebt, überlegt man bei sich und putzt seine Zähne. Zwar sind die meisten - nicht alle - Beispiele klug gewählt, und bis auf eine (allerdings dafür sehr) missglückte Liebesszene und wenige etwas arg abgenützte Effekte und Einfälle geht sich alles rund und glatt aus und schnurrt reibungs- wie tadellos durch die knapp 200 Seiten. Doch am Ende, wieso auch immer, hinterlässt dieses Buch – das kein Roman ist, es sei denn in einem sehr erweiterten Sinne – eine seltsame Taubheit, nicht unähnlich der Empfindung nach Zahnarztbesuchen, eine Teilnahmslosigkeit, die erstaunt angesichts dieser Geschichten vom Grauen des Verlorengehens, und Stunden später erst, halbwach am Morgen zwischen vier und fünf, fällt es mir auf, dass nur echte Menschen Mitleid erregen und Erbarmen, Zorn über die Härten des Lebens und Freude über seine vollen Trauben. Dass Kehlmann fast perfekte Automaten geschaffen hat, täuschend echte Attrappen des Lebens auf den ersten Blick, und doch die Marionettenschnüre sichtbar gelassen hat, warum auch immer, und die Eierschalen der Imagination am Boden nicht gekehrt. Dass eine Geschichte, die von A nach B wandert - und zwischendurch passiert eine Menge - bisweilen nicht darauf angewiesen ist, wirkliche, warme und atmende Menschen durch die Wüste zu den Oasen oder ins Nichts zu schicken, überlege ich mir, aber ein Buch, das von der Zerbrechlichkeit des Lebens erzählt, Leben doch erst erschaffen muss, dessen Gefährdung und Untergang uns schmerzt wie der Tod der Rahel am Weg, das Leiden und Sterben der Anna Karenina, oder die Zerstörung Lolitas durch Humbert Humberts Liebe.

Mittwoch, 28. Januar 2009

Dein Vogelmann

Heut’ nacht, meine Liebe, hast du Hochzeit gefeiert und ich war da. Ein violettes Kleid hatte ich an, Volants an Saum und Ärmeln, und die Haare hochgesteckt mit einer Agraffe. Violett war auch dein Schleier, dein Kleid war blau, marineblau, und du sahst alt aus, alt und müde, und wenn die Sonne schien, schien sie manchmal durch dich durch.

Alt und müde war auch dein Priester, so alt, dass seine Haut schon ganz leer war, wie ein Handschuh ohne Hand, und seine Stimme war so hoch und fein, dass ich ab und zu nicht verstand, was er sagte. Alt und grau, hellgrau wie Staub, waren auch deine Gäste und zerflossen im Licht.

Angst habe ich bekommen, um dich und um mich. Dass sie mich nicht mehr rauslassen würden, hab ich gefürchtet, dass die Tür geschlossen bliebe nach der Trauung, und wir alle ersticken würden in der Kapelle, die aus Stein war und ganz ohne Schmuck und Tücher. Dass nicht einmal Kerzen brannten, hat mich erschreckt, dass der Priester sich abstützte mit der Hand auf dem Altar, einem einzigen, bruch- und schmucklosen Fels, und deine Gäste – wurde es still – röchelten, laut und rasselnd die Luft einzogen, keuchten, lauter als du, lauter als die Segensworte des Priesters, und dass dein Bräutigam schrie, auf einmal, lachte, kreischte vor Lachen, die Arme hochriss und tanzte und sprang, die Beine wirbeln ließ bis zur Hüfte und drüber, dass dein Bräutigam Krallen hatte, vier an jeder Hand, und auf seinen Schultern, vom Schlüsselbein aufwärts, den Kopf eines Habichts mit rotem, klaffendem Schnabel, so scharf wie zwei Messer und voller Blut.

Montag, 26. Januar 2009

Die München XXL-Verschwörung

Nein, ich habe nichts gegen München. Ich hege wirklich keine Vorbehalte gegen die Hauptstadt aller Bayern, und würde sogar den Umzug an die Isar erwägen, würde nächste Woche Berlin von einem Meteorit pulverisiert. Heute allerdings ...

Aber beginnen wir von vorn.

Gegen 14.00 Uhr breche ich in der Münchner Innenstadt auf. Ein nur kleines Köfferchen und eine noch kleinere Handtasche ermöglichen den weiteren Transport per U-Bahn, die zu nutzen, wie Münchener mir versichern, unbedenklich sei. Der Flughafen sei – so einheimische Experten – auch nicht zu verfehlen. Den Weg schreibt man mir auf.

Nicht aufgeschrieben hat man mir allerdings den richtigen Tarif. Vor dem Automaten stehe ich also recht ratlos. Eine Zone, denke ich mir, ist sicherlich zu wenig, schließlich liegt der Münchener Flughafen bekannt weit weg, und aus den Transrapid-Plänen ist – wie die Welt weiß – nichts geworden. Zwei Zonen erscheinen mir auch ziemlich riskant, man will ja sicher gehen, denke ich mir, und so schiebe ich zehn Euro in den für Banknoten vorgesehenen Spalt und drücke auf die Taste „München XXL“. Dann steige ich auf die Rolltreppe und fahre los.

Neben mir zieht ein junges Mädchen die ganze Zeit an einem Kaugummi. Auf der anderen Seite des Ganges unterhalten sich zwei junge Männer im Anzug über eine dritten, der ein ziemliches Rindvieh sein muss, oder zumindest im Kollegenkreis als solches gilt. Wie andere Leute wohl über mich sprechen, überlege ich, und male mir aus, was man wohl über mich sagen könnte, wenn man mich nicht mag.

„Ihr Fahrschein bitte.“, unterbricht ein älterer, grauhaariger Mann meine Gedanken. Knollig sieht er aus, überzogen mit roten Äderchen, und auf der Stelle regt sich in mir eine kräftige Antipathie. Wortlos strecke ich ihm mein München XXL-Ticket entgegen. Zehn oder zwölf Sekunden starrt der Schaffner unverwandt auf den kleinen Fetzen Papier. Dann schaut er auf. „Sie haben kein gültiges Ticket.“, behauptet er, so laut, dass die Anzugmänner aufsehen und ihre Suada über das abwesende Rindvieh stockt.

Das Ticket, erfahre ich, reiche nicht aus. München XXL umfasse keineswegs auch den Flughafen. Vielmehr sei München XXL kurz vor dem Flughafen zu Ende. Und nein, nachlösen ginge nicht. Und einfach bezahlen könne er mir nicht raten, denn mit einem gelösten, wenn auch unzureichenden Ticket habe man Einspruch einzulegen, Nachweise zu führen, und dann könne man, wenn die Einspruchsstelle gnädig sei, mit einer geringeren Strafe rechnen.

„Das ist mir egal. Ich habe keine Lust auf Scherereien.“, verkneife ich mir nur knapp und zücke mein Portemonnaie. Nein, verweigert der Kontrolleur die Zahlung. Karten nehme er nicht. Meine Adresse möchte er haben, meine Visitenkarte reicht ihm nicht einmal, wenn ich ihm den Personalausweis danebenhalte, und so stehe ich auf dem windigen S-Bahngleis am Flughafen, während mein Boarding schließt, und lasse mir aufschreiben, wohin ich mich zu wenden habe, um sodann am anderen Ende des Flughafens mein Ticket nach Berlin umbuchen zu lassen, ziemlich viel Geld zu bezahlen für den nächsten Flug nach Hause und eine Stunde auf den ziemlich unbequemen Stühlen im Terminal herumzusitzen, Kaffee zu trinken, ein bisschen vor mich hin zu schäumen und darüber nachzudenken, ob die Verkehrsbetriebe der Stadt München ein Ticket, dass den Großraum München offenbar in wesentlichen Aspekten nicht abdeckt, eigentlich absichtlich München XXL genannt haben, um Reisende zu verwirren.

Donnerstag, 22. Januar 2009

Verlieren, Verlaufen

Beispielsweise könnte man übermorgen um acht den falschen Zug besteigen. Statt neben dem Brezelbäcker zur Treppe abzubiegen, würde man zehn Meter weiter laufen und erst beim Blumenstand die Rolltreppe nehmen. Statt des ICE stiege man in einen EC und führe los.

Sehr lange könnte man so tun, als hätte man die Verwechslung nicht bemerkt. Vielleicht beharrt man sogar gegenüber dem Schaffner auf einer Reservierung, die man nicht hat, und ließe sich nur widerstrebend überzeugen, im falschen Zug zu sitzen. „Sie können erst in *** aussteigen.“, würde einen der Schaffner belehren. Man müsste unglücklich aussehen und fragen, ob sich das nicht ändern lässt, und über der Antwort verzweifelt den Kopf schütteln, bis der Schaffner geht. Dass man im falschen Zug säße, teilt man dann mit und schaltet das Telephon aus.

Am nächsten Bahnhof verließe man den Zug. Es sollte ein kleiner Bahnhof sein, ein Fachwerkhaus, zugig und verloren, und mit einem einzigen Schalter, hinter dem zwar Licht brennt, aber niemand sitzt. Der Zeitungsstand hätte geschlossen, die Scheiben wären staubig und blind, und in den Schmutz der Glastür hätte jemand mit dem Finger seinen Namen geschrieben.

Ein paar Minuten müsste man schon auf der Bank auf dem Bahnsteig sitzen bleiben und warten, ob nicht ein Zug kommt, der einen zurückbringt. Wenn es kalt würde (und es wird kalt sein), dann darf man gehen. Auf der Rückseite des Bahnhofs stünde man noch einen Moment, sähe sich unschlüssig um, schlüge dann langsam die Straße ein, die vom Bahnhof ortsauswärts führt, und verlöre sich auf der Bundesstraße, noch hinter der Tankstelle, dort, wo die Raiffeisensilos stehen im Nichts wie Spuren in fließendem Wasser.

Dienstag, 20. Januar 2009

Vom Winter

Ein weiteres Jahr den Winter zu verpassen: Das Knacken der Bäume, wenn das Holz vor Kälte splittert, Eiszapfen an der Regenrinne und die ganz und gar unglaubliche, leuchtende Dunkelheit einer Schneelandschaft auf dem Weg nach Haus. Die Stille zwischen Wald und Feldern, Krähenschwärme am Morgen um sechs zwischen der Landstraße und den ersten Häusern der Stadt. Der bleigraue Himmel, zart wie Haut, mit einem Rand von Silber und Taube.

Heimgekehrt am Abend auf dem Ofen mit dem Sprung in der dritten Kachel von rechts, vierte Reihe von oben, Äpfel braten, weil es so gut riecht. Ein Punsch aus Rotwein und Zimt, Orangen und Mandeln, zu Bett in langen Nachthemden aus Flanell, karierte Plumeaus und die Nacht vor den Fenstern, schwärzer und blitzender als alle Lichter Berlins.



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