Dienstag, 9. Oktober 2012

Oktober, 8

Seit neulich in der Zeitung stand, dass die Berliner Schulen nicht in der Lage sind, Kindern genauso gut Lesen und Schreiben beizubringen wie woanders, bin ich dann doch ein bißchen besorgt. Nicht, dass ich es auf eine herausragende Schulkarriere des F. anlege. Tatsächlich ist mir seine Abinote komplett egal. Ich möchte aber vermeiden, dass er mit 18 weder weiß, wann die Kreuzzüge stattgefunden haben und warum, und auch nicht recht zu sagen weiß, was Klassik und Romantik unterscheidet. Vielleicht kann man es ungefähr so ausdrücken: Noten sind mir schnurz. Bildung nicht, und ich fürchte, dass das Berliner Schulssystem dieser Bedarfslage weniger entspricht, als ich es möchte.

Auf der anderen Seite will ich auch keine Privatschule, die den Leistungsgedanken mehr betont, als ich es angemessen und elegant finde. Ich denke bis heute, dass Bildung etwas Unangestrengtes haben sollte. Zudem stelle ich mir unter Bildung etwas vor, was sich nicht in Geld und Positionen niederschlagen soll, sondern vielleicht eher so in der Fähigkeit, vernünftig zu kommunizieren, ohne sein Gegenüber - beispielsweise seine Mutter - zu langweilen. Oder in der Oper sofort zu wissen, woran einen das Bühnenbild erinnert, und wieso dieser Bezug nun partout nicht passt. Solcherart, fürchte ich, ist es aber nicht, was man in Berliner Privatschulen erlernt. Die wollen doch entweder Tanztherapeuten oder Investmentbanker erziehen. Es mag sein, dass die etwas besser abgehangenen kirchlichen Institute noch derlei vermitteln, aber dazu müsste der F. erst einmal Christ werden, und für die damit verbundenen Zeremonien sind der J. und ich zu atheistisch und zudem zu faul.

Außer der Sorge um den Bildungsgrad des F. treiben mich gerade eher wenig Sorgen um. Von mir aus mag die Inflation kommen. Ich habe gerade kein Geld. Ich mag die dilletantischen Versuche des Gesetzgebers, das deutsche Gemeinwesen zu organisieren, und noch viel mehr schätze ich den europäischen Gesetzgeber für seine Querschläge, denen ich schon viele amüsante Stunden verdanke. Ich könnte etwas abnehmen, aber nach wie vor schmeckt mir das Essen zu gut, um wirklich weniger zu nehmen, und so liege ich um halb zwölf recht zufrieden im Bett, lese ein paar Seiten im neuen Krausser und bin zufrieden mit der Welt und dem laufenden Jahr: Verweile doch. Du bist so unterhaltsam.

Montag, 8. Oktober 2012

Oktober, 7

"Wir waren doch schon zur Hochzeit zu spät.", jammere ich und laufe so schnell ich kann. Neben mir schnauft der J. im Anzug. Nur der F. schnauft nicht, aber der wird ja auch gefahren. Hochzufrieden schaut der Kleine uns zu auf unserem eiligen Weg zur Kirche. Atemlos und leicht verschwitzt schleichen wir uns die drei Stufen hoch, schnell durch die Tür und dann in die letzte Reihe. In der ersten Reihe sitzt J.2 mit Familie. Heute wird seine Tochter getauft.

Zum Glück macht der F. keine Anstalten, den Gottesdienst zu stören. Eher werden der J. und ich etwas unruhig, weil wir in den letzten Jahren verlernt haben, noch irgendwo zu sitzen und ohne iPhone zuzuhören. Außerdem ist der Gottedienst nicht so spannend. Ungefähr eine halbe Stunde warte ich auf die eigentliche Taufe, aber dann zieht sich die ganze Angelegenheit noch Stunden um Stunden. Zumindest kommt es mir so vor.

Nach dem Gottesdienst finden wir uns mit der Festgesellschaft zusammen. Fast alle Teilnehmer des Gottesdienstes gehören dazu. Einfach so erscheint hier offenbar niemand, um am Sonntag morgen dem lieben Gott in Friedrichshain zu huldigen. Ich schüttele ziemlich viele Hände, erneuere alte und ganz alte Bekanntschaften, schließe neue, und freue mich, dass es so ungeheuerlich viele Kinder hier gibt, die alle ziemlich nett aussehen, so dass es auch gar nicht auffiele, wenn mein eigenes Kind sich schlecht benähme und etwa schreit. Tut es aber nicht, das eigene Kind.

Auch beim Mittagessen ist der Kleine ruhig. Ich rede nach links und rechts, höre mir Anekdoten über Immobilien, Reisen und Familie an, liefere mein Geschenk ab und esse zu viel, und die ganze Zeit sitzt mein Baby mit weit aufgerissenen Augen auf meinem Schoß und in seinem Wagen. Alte Tanten lassen ihn mit Schmuck spielen, kitzeln ihn, man kneift ihn in die Wange, und der F. gluckst fröhlich und isst große Mengen Brot.

Als wir das Lokal verlassen, schläft der F. auf der Stelle ein. F. ist groggy. "Wieso sind wir eigentlich immer zu spät?", jammere ich schon wieder, hechte in meine Wohnung, reiße dem F. die Windeln ab und springe schon wieder los. Mit mir springen der J. und der F., letzterer wieder im Wagen.

In der M 4 schreibe ich eine Besänftigungsmail an die I. Aus der S 9 eine weitere, und als wir geschlagene 60 Minuten später im Grunewald am Kaffeetisch sitzen, entschuldige ich noch einmal für diese gigantische Verspätung. Irgendwie scheint sich aber keiner zu wundern. Man kennt mich. Man sagt kein Wort und gibt mir einfach Torte.

Den Rest des Tages verbringe ich bei der I. und dem S. auf dem Sofa. Ich trinke Sekt, rede so über dies und das, gratuliere zu einem neuen Job und einem neuen Haus, spiele mit dem Kind der M. und des M. und esse zu viele Chips. Mein F. kriecht unterdessen mit neuerworbener Mobilität unter ein Sofa. Ich sollte ihm ein Staubtuch unter den Bauch binden, überlege ich und ob es irgendwo im Netz einen Staubtuch-Strampler gibt, und denke darüber nach, ob auch ich meine Wohnung farblich mehr gestalten sollte. Die I. hat - ebenso wie die M. - immer ziemlich gute Einrichtungs- und Dekorationsideen. Ich habe überhaupt kein Ambiente. Nur Möbel.

Irgendwann laufen wir den Weg zurück zur S-Bahn. Schön ist es hier. Rechts und links säumen Villen den Weg. Vielleicht wohne ich hier, wenn ich alt bin, male ich mir aus, und überlege, wann das wohl sein wird, als ich schlafen gehe, irgendwann ziemlich spät.

"Wann sind wir alt?", frage ich den J., als er ins Bett kommt, irgendwann kurz nach zwölf. "Später.", beruhigt er mich, und dann schlafen wir alle drei.

Sonntag, 7. Oktober 2012

Oktober, 6

Lange hat sich der Sommer gehalten. Wie manchmal ein schon mürber, brüchiger Ast noch an einer letzten Faser hängt, schon zu schwer eigentlich für den Baum, täglich etwas tiefer gebeugt vom Gewicht des toten Holzes, lehnte der Sommer spät und träge noch in den Ecken, saß auf den Bierbänken am Schwanenteich, aß Tag für Tag ein letztes Eis, und musste dann doch mit Sack und Pack verschwinden. Letzte Woche war das. Vielleicht am Freitag. Seine Sandkastenschaufeln nahm er mit, seine kurzen Ärmel und nackten Beine, und so ziehe ich los am Samstagmorgen und kaufe ein: Strumpfhosen. Eine Mütze. Strumpfhosen aus Wolle für den F.

Weil ich schon einmal da bin, kaufe ich noch ganz viel anderes Zeug. Ich habe noch nie so viel Geld bei dm gelassen wie in diesem Jahr. Diese ganzen Drogeriefilialen machen vermutlich 90% ihres Umsatzes mit jungen Müttern, mutmaße ich und fühle mich mit einem Blick auf die anderen Kunden bestätigt. So gut wie jeder hat ein Kind dabei. Nur der Kerl dahinten .... der ist bestimmt allein. Doch auch in dessen Korb: Schmelzflocken. Ein Breisauger. Die Sache ist klar.

Später schlafe ich zwei Stunden und lese ein bißchen und spiele ein bißchen mit dem F. Dann schlafe ich weiter. Erst so gegen sieben werde ich wieder wach und koche hastig Brei. Schnell füttern und los. "Wieso sind wie eigentlich wieder im Alt Wien verabredet?", frage ich den J., der zufrieden und genießerisch schweigt. Wenn es nach dem J. geht, essen wir hier täglich.

Kurz nach uns erscheinen Mek und die K. Heute gibt es Schnitzel, rosé Sekt, danach ungeheuerliche Mengen Mehlspeisen, und wir erzählen und gegenseitig lauter Geschichten, die alle sehr, sehr interessant sind, aber wegen des Sekts habe ich am Ende alles wieder vergessen. Aber schön war's, das vergesse ich nicht.

Hochzufrieden wirkt auch der F. Er muss pappsatt sein nach seinem Brei und dem halben Brotkorb und ein bißchen Kaiserschmarrn zum Schluss, quietscht aber fröhlich und hochaktiv auf dem Weg nach Hause und streckt seine Hände nach den Bäumen aus. "Den bekommen wir heute nicht so schnell ins Bett.", vermute ich vor der Tür, und der J. seufzt ein bißchen vor sich hin. Es ist irgendwie so ungefähr elf.

Dann schläft der F. aber doch sofort ein, und ich selbst schlafe nicht allzu viel später.

Samstag, 6. Oktober 2012

Oktober, 5

Um 18:30 k0mmt die K. Die K. ist Ende 40, weder besonders hübsch noch besonders klug, wie mir scheint, aber liebevoll und erfahren mit kleinen Kindern, vielfach empfohlen im Freundeskreis, und immer, wenn ich in der Zeitung lese, dass es Leute gibt, die für Kleinkindbetreuerinnen Hochschulabschlüsse fordern, denke ich an die K., die keinen Hochschulabschluss hat, aber etwas besitzt, was man nicht studieren kann: Herzenswärme. Kinderliebe. Und einen nie versiegenden Vorrat an Spielchen, Liedern, Reimen und Geschichten.

Als ich die Tür hinter mir zuziehe, steht die K. im Flur. Auf ihrem Arm lacht der F. Den ganzen Abend wird er nicht weinen, erfahre ich, als wir wieder da sind, und der F. selig schlummernd in seinem Bettchen liegt und träumt.

Der J. und ich laufen die Straße herunter. Wir sind um die Ecke verabredet, im Alt Wien, wo es nach Ansicht des J. die besten Schnitzel der Stadt geben soll. Heute gibt es aber keine Schnitzel, zumindest nicht für den J., heute gibt es Reh für ihn und Rostbraten für mich, eine Frittatensuppe vorab, danach Marillenknödel, und mit uns essen Frau Wortschnittchen samt Gemahl und erzählen von Krakau. Und von der kleinen Stadt. Und ich erzähle vermutlich doch viel mehr vom Baby, als ich das irgendwann mal so vorhatte, bevor es da war, das Kind, und außerdem sprechen wir irgendwann über die kleinen Bühnen, die Konzerthäuser in der Provinz, die Zahnarztgattinnen in ihren Pelzen und die gedeckten Tischchen in der Pause mit Piccolo und Schnittchen.

Ein bißchen Heimweh nach besseren Zeiten weckt dieses Gespräch, bemerke ich erstaunt, obwohl ich die Zahnarztgattinen nie mochte und sie und ihre Freundinnen immer verachtet habe für ihre Borniertheit und ihren eklektischen Geschmack. Dass es trotzdem besser ist, es gibt das alles, weiß ich inzwischen, denn wenn die Zahnarztgattinnen fehlen, reicht es nicht mehr in den kleinen Städten für die Kulturvereine, die Lesungen in der Buchhandlung am Marktplatz und die Haumusik für gute Zwecke. Dann gibt es nur noch die Solarien und das Multiplexkino und die Leute, die man sehen kann, wenn man im Alexa etwas kauft.

Gar nicht so spät brechen wir auf. Ich bin müde. Zwanzig Minuten lese ich noch den Bolaño, den mir Mek zum Geburtstag geschenkt hat, und verliere mich dann in Träumen, die ich mir nur angenehm vorstellen kann.

Donnerstag, 4. Oktober 2012

Oktober, 4

Morgens auf dem Weg zur Arbeit fast in eine Gruppe Schüler hineingefahren, die schwatzend auf der Straße standen und mich unbewegt auf sich zurollen sahen. Ich werfe einen Blick auf das Schild an der Schule, vor der die Dreizehn- oder Vierzehnjährigen warten. Es ist eine Stadtteilschule. So heißen hier die Gesamtschulen. Fühle mich bestätigt. Vor einem altsprachlichen Gymnasium sähe das anders aus, bin ich überzeugt.

Mittagspause entfällt. Hastig esse ich am Schreibtisch, tippe nebenbei zwei SMS, und bevor ich mich umdrehe, muss ich heim. Keine Ahnung, wie Leute in Teilzeit ihre Tage strukturieren, sinniere ich auf dem Weg nach unten und bestelle mir ein Taxi. Es regnet noch immer.

Dem J. ist die Kürbissuppe missraten. Ich bin enttäuscht. Der F. spuckt unglaublich viel Milch auf meine Hose. Die Katze wetzt ihre Krallen an meinem Mantel, lässt sich widerwillig wegjagen, lugt schon wieder halb um die Ecke: Da! Da sitzt sie und macht sich, kaum schaue ich weg, schon wieder über meinen Mantel her. Immerhin lacht und brabbelt der F. Der hat's gut, denke ich mir. Der kann bei schlechter Laune einfach motzen und wenn's nicht schmeckt, wirft er den Brei halt in der Gegend herum.

Abends muss ich arbeiten und bin noch schlechter gelaunt. Wein ist auch nicht mehr da. Wer was will, muss sich etwas holen, sage ich mir, ziehe mir Stiefel an und laufe los. Côtes du Rhône und Rauchmandeln und noch einmal schnell zur Bank.

Schön ist es, schaue ich auf. Mild noch die Luft. Lautlos sinkt das rotgoldene Laub durch den schwarz-stumpfen Himmel.



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