Sonntag, 3. März 2013

Vorbei

Wir sahen alle schon mal besser aus, schaue ich in Gedanken noch einmal in die Runde von gestern. Diese glatte Marzipanhaut hat niemand mehr am Tisch. So langsam verändern sich auch die Haare, und auch unter der Haut tut sich etwas. Nasen werden knolliger, Augen kleiner, die Haut sitzt nicht mehr so straff auf den Knochen, und nackt würde sich wohl niemand mehr gern jemandem zeigen, der einen nicht schon kennt.

Ab jetzt geht es nur noch abwärts, sinkt mir ein bißchen das Herz. Ich war ja nie schön, vielleicht so gerade eben und an guten Tagen ein nettes Mädchen eben, aber selbst dies zu verlieren, nicht mehr gesehen zu werden, einfach nur noch so da, totes Fleisch, das wird mich doch nicht wenig schmerzen

Du wärst gern schön gewesen, seufze ich mir zu, aber dann stehe ich doch auf, koche mir Kaffee, streichle den F. wach und hole ihn aus seinem Bett, und schaue nur noch flüchtig in dem Spiegel im Flur. Vorbei ist vorbei.

Sonntag, 24. Februar 2013

Sturmtruppen der Reaktion

Im gesamten ersten Lebensjahr hatte der F. nichts. Also so gar nichts. Noch nicht einmal einen Schnupfen, Durchfall oder Koliken oder so. Wir verließen das Krankenhaus vielmehr nach ein paar Tagen mit einem selig schlummernden F. und hatten fortan nur noch anlässlich der vorgeschriebenen Vorsorgeuntersuchungen mit dem Gesundheitswesen zu tun. Da erschienen der J. oder ich dann also jeweils mit unserem Sohn auf dem Arm beim Arzt, ließen uns bestätigen, dass mit jenem alles stimmt, und dann gingen wir wieder nach Hause.

Mit der Kita änderte sich das auf einen Schlag. Anfang Januar brachten wir den F. in diese an sich segensreiche Gruppeneinrichtung. Zwei Wochen später war er eingewöhnt, hatte sich also damit abgefunden, fortan seine Tage mit den Kindergartentanten und den anderen Kleinkindern der Gruppe zu verbringen, und nach circa zehn weiteren Tagen fing er an zu schniefen. Seitdem ist eigentlich immer irgendwas. Derzeit hustet der F. dermaßen gottserbärmlich, dass ich ernsthaft überlege, künftig mit Ohropax zu schlafen. Außerdem laufen ihm pro Stunde mehrere Deziliter Sekret aus der Nase. Die Bindehautentzündung von letzter Woche ist zum Glück gerade wieder weg.

Nun könnte man das alles unter "Abhärtung" verbuchen. Der Mensch ist vielleicht einfach so gestrickt, dass er das Stahlbad der Infektionskatjuschas als Kleinkind erst einmal braucht, um dann um so gestärkter den Herausforderungen des Lebens entgegentreten zu können. Was aber unter dieser Prämisse keinen wirklichen Sinn ergibt: Der J. und ich schniefen auch. Wir husten alle beide den ganzen Tag wie alte Hunde. Der J. hatte sogar letzte Woche richtig Fieber und Schüttelfrost. Dabei brauchen wir doch gar keine Abhärtung mehr. Wir sind nämlich alle beide den normalen Keimen eines Berliner Alltags durchaus gewachsen, wie die letzten Jahrzehnte zeigen, die wir ja auch irgendwie überlebt haben.

Hier sitzen wir nun also leicht geschwächt auf dem Sofa und rätseln über den evolutionären Sinn dieser Dauererkältung. Handelt es sich - so mutmaßen wir - vielleicht um eine Maßnahme, mit der ER, der große Beweger, verhindern will, dass Schwächlinge mit einem degenerierten Immunsystem ihr erstes Kind überleben und gar weitere Kinder zeugen, die dann auch alle so eine schlechte Immunabwehr haben wie ihre Eltern? Oder benötigt der Körper eine Auffrischung des als Kleinkind erworbenen Immunschutzes alle paar Jahrzehnte, und weil wir bis gegen Ende unseres vierten Lebensjahrzehnts mit dem Kinderkriegen gewartet haben, fällt diese Reimmuniesierung jetzt einfach mal ganz besonders heftig aus? Oder handelt es sich schlicht um ein Komplott, eine Verschwörung, eine biologische Bombe, mit der interessierte Kreise Eltern subtil bestrafen wollen, die ihre Kinder nicht mindestens bis zur Einschulung zu Hause behalten, eine Art Komplementärmaßnahme zum Betreuungsgeld also, die einerseits unsereinen dazu bringen soll, den F. aus der Kita zu nehmen, andererseits andere Leute, die uns kennen, abschrecken soll, eine Fremdbetreuung in Anspruch zu nehmen?

Mehr und mehr leuchtet mir die letztgenannte Alternative ein, und so bleibt mir nur noch zu fragen: Wer genau war der Übeltäter, und wie legt man jenem das Handwerk?

Sonntag, 10. Februar 2013

Samstagnacht

Der Taxifahrer ist muffig. Schweigend fährt er uns von der Greifswalder Straße nach Mitte, und als wir Ecke Chaussestraße aussteigen, bin ich fast froh, nicht mehr in der Enttäuschung zu sitzen, dass der ältere Mann für zehn Euro zu uns gekommen ist, und strecke meine Glieder. Dick, weiß und fröhlich wirbelt der Schnee über die Torstraße und glitzert im Licht der Laternen.

Im Toca Rouge sitzen wir direkt an der Tür. Kalt ist es ab und zu, und voll, richtig voll, wie die ganze Stadt voll ist am ersten Berlinale Wochenende, und ich erzähle dem J. von dem russischen Wettbewerbsfilm, den ich am Nachmittag gesehen habe, und von der Hauptdarstellerin, die so russisch aussah wie die Mädchen, die nachts in der bar tausend tanzen.

"Ich will in den Pauly Saal!", ziehe ich den J. nach dem Essen in die Auguststraße, und da stehen wir dann, unsere Drinks in der Hand. "Keine schönen Menschen, heute.", meint der J., und kurz überlege ich, ob wir noch in die King Size Bar müssen oder doch noch ins Grosz, schaue zu, wie das Licht sich im geschliffenen Glas der Tumbler bricht, erzähle irgendwas und lasse mir erzählen und freue mich auf den griechischen Film am Sonntag, den Abend mit der lustigen T. nächsten Donnerstag, das Essen im Grill Royal am letzten Berlinale Abend und stelle mir vor, wie wir aussehen, wenn man uns nicht kennt, von den Sofas, von der Bar und einfach so auf der Straße.

Montag, 4. Februar 2013

Woanders. Nicht hier.

Gelangweilt in Dierckes Schulatlas herumzublättern, während vorn an der Tafel Herr F. monoton etwas über Landwirtschaft in der UdSSR schwadroniert. In Russland, höre ich, hungern die Leute, aber die Karten sind so bunt, so bunt, erzählen von Erzvorkommen und Bergen, Meeren, und wenn man nicht ganz genau hinsieht, kann man Scheiche sehe und Oasen, singende Frauen mit Krügen auf dem Kopf und melancholische, alte Indianer.

Wie schön das klang: Odessa. Luxor. Ätna, Bergamo. Eriwan und Dehli. So viele Geschichten staken in den kleinen, runden Punkten. Keine der Geschichten aber kannte der Herr F., und die Karten selbst hatten noch nichts zu erzählen, damals, als es das Internet noch gar nicht gab, irgendwann so ungefähr 1985.

Inzwischen ist das anders, denn zu den großartigen Dingen, die das Internet kann, gehört, dass man das machen kann: Die Frau Kitty hat eine Riesekarte eingerichtet voller Geschichten. Ich bin begeistert, befülle (gerade habe ich 2006 durchforscht und hochgeladen) und bewerbe: Hier ist es. Machen Sie mit.

Sonntag, 3. Februar 2013

So gern geraucht

Die letzte Zigarette ... warten Sie: Es muss im Sommer 2011 gewesen sein. Ich saß auf dem Helmholtzplatz, vor dem Vin Pearl, wo man wirklich ganz gut essen kann, und trank irgendwas mit Hibiskus und Wodka. Mir gegenüber saß der U. und sprach mehrere Stunden über seinen Beruf.

Es war schon ziemlich spät. Der Himmel hing schwer, warm und feucht in die Bäume. Die Erde dampfte. An den anderen Tischen saßen ein paar Paare, zwei Mädchen zeigten sich gegenseitig Bilder auf ihren Handys, und ich dachte darüber nach, was eigentlich aus den Bettlern geworden ist, die früher immer hier waren und dann irgendwann nicht mehr.

Irgendwann brach ich auf. Der U. sprach immer noch, als ich aufstand, er sprach, als ich mein Rad aufschloss, und als er 50 Euro auf den Tisch warf, sprach er gleichfalls einfach weiter.

"Hast du noch eine Zigarette für mich?", unterbrach ich ihn, und er nickte. Der U. rauchte eigentlich nicht, nur ab und zu und sozusagen inoffiziell, und dass er trotzdem immer Zigaretten dabei hatte, lag vermutlich an seiner Abneigung daran, irgendwelche Leute um etwas zu bitten. Mir kam das entgegen. Ich rauchte schon damals eigentlich auch nicht mehr.

Ich glaube, er war schon wieder bei seinem Job, als er in seiner Tasche nach einem zerknüllten Päckchen P&S suchte, eine einzelne Zigarette aus dem zerknautschten Papier fingerte, sie sich zwischen die Lippen steckte, anzündete und ein-, zweimal langsam zog. Für vielleicht zehn Sekunden war es still. "Danke.", sagte ich, drehte mich weg und schob mein Rad langsam die Dunckerstraße abwärts Richtung Norden.

Zwei Tage später wusste ich vom F. und saß überwältigt und benommen auf einer Hochzeit in Sachsen-Anhalt. Natürlich rauchte ich nicht. Auch als der F. dann da war, rauchte ich nicht eine einzige Zigarette. Ich bin Nichtraucherin, sage ich inzwischen ohne die Einschränkungen, mit denen ich früher meine späteren Niederlagen garnierte, doch gestern nacht, gestern nacht in der Küche der Frau Kitty, angelehnt an die Küchenzeile und im Gespräch mit dem gloriosen Monsieur Glamourdick, da war ich so nah dran: Fast schon die Rechte ausgestreckt, fast schon die Lippen geöffnet, fast schon die Lunge voll mit trägem, weißen Rauch, und dann doch. Doch nicht. Doch so nah dran.



Benutzer-Status

Du bist nicht angemeldet.

Neuzugänge

nicht schenken
Eine Gießkanne in Hundeform, ehrlich, das ist halt...
[Josef Mühlbacher - 6. Nov., 11:02 Uhr]
Umzug
So ganz zum Schluss noch einmal in der alten Wohnung auf den Dielen sitzen....
[Modeste - 6. Apr., 15:40 Uhr]
wieder einmal
ein fall von größter übereinstimmung zwischen sehen...
[erphschwester - 2. Apr., 14:33 Uhr]
Leute an Nachbartischen...
Leute an Nachbartischen hatten das erste Gericht von...
[Modeste - 1. Apr., 22:44 Uhr]
Allen Gewalten zum Trotz...
Andere Leute wären essen gegangen. Oder hätten im Ofen eine Lammkeule geschmort....
[Modeste - 1. Apr., 22:41 Uhr]
Über diesen Tip freue...
Über diesen Tip freue ich mich sehr. Als Weggezogene...
[montez - 1. Apr., 16:42 Uhr]
Osmans Töchter
Die Berliner Türken gehören zu Westberlin wie das Strandbad Wannsee oder Harald...
[Modeste - 30. Mär., 17:16 Uhr]
Ich wäre an sich nicht...
Ich wäre an sich nicht uninteressiert, nehme aber an,...
[Modeste - 30. Mär., 15:25 Uhr]

Komplimente und Geschenke

Last year's Modeste

Über Bücher

Suche

 

Status

Online seit 7128 Tagen

Letzte Aktualisierung:
15. Jul. 2021, 2:03 Uhr

kostenloser Counter

Bewegte Bilder
Essais
Familienalbum
Kleine Freuden
Liebe Freunde
Nora
Schnipsel
Tagebuchbloggen
Über Bücher
Über Essen
Über Liebe
Über Maschinen
Über Nichts
Über öffentliche Angelegenheiten
Über Träume
Über Übergewicht
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren