Die bakterielle Verseuchung der Kindheit

Die ganze Welt war voller Bakterien. Insbesondere andere Leute waren mit Mikroben übersät, vor allem meine Familie, und ich sah die Kleinstlebewesen förmlich auf der Haut meiner Anverwandten sitzen wie die Blattläuse auf den Stauden an der Garage meiner Oma. Was aber das Schlimmste war: Meine Familie hatte mir diese bestürzende Tatsache während meines gesamten fünfjährigen Lebens verschwiegen. Erst ein Sachbuch der Reihe „Was ist was“ hatte mir die Gefahren der Mikrobenwelt vor Augen führen müssen.

Vorsichtig, um nicht mit mehr Bakterien als unbedingt nötig in Kontakt treten zu müssen, tastete ich mich ins Bad. Die scheinbar saubere Toilette strotzte vor Krankheitserregern. „Escherichia coli.“, dachte ich und versuchte, das Wasser nach einer ausgiebigen Reinigung wieder abzudrehen, ohne den Wasserhahn zu berühren. Aufgeschlagen lag das angstauslösende Buch scheinbar friedlich auf meinem Bett. Auch das Buch, wurde mir klar, war verseucht.

Am Abend stellte ich meine Eltern zur Rede. Man lachte. Nicht alle Bakterien, wurde ich belehrt, seien gefährlich, aber das hatte ich dem „Was ist was“-Buch auch schon entnommen. Da die Bakterien aber bekanntlich für das bloße Auge unsichtbar und daher nicht ohne unverfügbare Hilfsmittel in gefährliche und harmlose Geschöpfe unterscheidbar waren, beruhigte mich diese Mitteilung nicht. War meine Mutter ungefährlich oder warteten todbringende Kleinstlebewesen auf ihrer Haut nur darauf, mich anzuspringen? Saß im Haupthaar meines Vaters das Verderben und wartete auf mich? Und was war mit Schwesterchen? Was mit dem Hund? – Umzingelt von Gefahren saß ich auf dem Rand der Badewanne und beobachtete misstrauisch meine Hände. Unter meine Fingernägeln, so schien es mir, saßen Millionen Kranlheitserreger und lachten mich aus.

Der übliche Gute-Nacht-Kuss fiel aus. Bekümmert stand mein Vater einige Sekunden in der Tür und atmete Enttäuschung. Aus seinen Nasenlöchern spritzten Kaskaden von Bakterien durch den halbdunklen Raum. „Gute Nacht.“, zog er die Tür zu. „Gute Nacht.“, sagte ich ein wenig schuldbewusst, weil es ja nicht an ihm lag, sondern nur an seiner Eigenschaft als Wirt. In der Dunkelheit meines Kinderzimmers wühlten die Mikroben sich durch den orangefarbenen Bodenbelag, bedeckten wie eine Haut alle Möbel, die Playmobil-Stadt auf dem Boden, und die gleichfalls orangefarbenen Vorhänge waren getränkt mit den hunderttorigen Städten und Reichen der mikroskopischen Fauna. In meinem Kissen tanzten unzählige Milben eine zähnefletschende Polka, und neben dem Bett lag das Buch, in dem man ganz genau sehen konnte, wie die kleinen Mitbewohner meines Lebens aus der Nähe aussahen.

Am nächsten Morgen verlangte ich eine neue Zahnbürste und ein Extrastück Seife. Seufzend legte meine Mutter die verpackten Kosmetikartikel auf die Konsole unter dem Spiegel. In den Kindergarten wollte ich nicht. Die bakteriell verunreinigten Abdrücke der Hände meines Vaters konnte ich auf dem Frühstückstisch förmlich sehen. „Ich will sauberes Geschirr.“, versuchte ich mein Überleben zu sichern.

Die Spülmaschine, so klärte mich ein Blick auf das Display auf, war mit nur 50° C ungeeignet, das Geschirr wirksam zu reinigen. Mit jedem Bissen, so wurde mir klar, nahm ich Bakterien auf, die aus dem Mund meiner Familie über Löffel und Gabel auf die nurn scheinbar sauberen Teller geraten waren. „Ich will ein eigenes Geschirr.“, meldete ich an. Ein paar an Auseinandersetzungen reiche Tage später erschien mein Vater mit einem großen Karton. Ich packte aus: Ein „Hahn und Henne“-Geschirr, ein dazugehöriges Besteck, und mein bekümmerter Vater im Hintergrund. Trotz der gesundheitlichen Risiken fiel ich ihm um den Hals. Fast hätte ich ihn geküsst.

Das neue Geschirr stellte ich selbst in die Spülmaschine. Auch die Reinigung meines Zimmers wollte ich selbst übernehmen und konnte nur mit Mühe davon überzeugt werden, dass Frau T., die Sachwalterin der häuslichen Hygiene, als Profi der Keimfreiheit besser in der Lage sein würde, den Tod aus meinem Zimmer zu verjagen. Immerhin trug Frau T., wie auch Schwesterchen, einige Tage gezwungenermaßen einen Mundschutz aus der Praxis unseres Zahnarztes.

Eines Tages aber war das „Was ist was“-Buch weg. Noch ein paar Tage später packte meine Mutter unsere Taschen, und unsere Mikroben und wir fuhren in Urlaub. Nach der Rückkehr aber hatte die Welt der Kleinstlebewesen für's Erste ihren Schrecken verloren, und nur das Geschirr blieb, wo es war.

che2001 - 31. Dez. 2006, 16:38 Uhr

Rührende und wunderschöne Geschichte ;-)


In meiner Kindheit war es ja so, dass bei den Eltern der Bakterienwahn herrschte und jedesmal, wenn eins von uns Kindern krank war, Küche und Bad mit Sagrotan eingesprüht wurden, und zwar mehrmals täglich.
kaltmamsell - 31. Dez. 2006, 17:03 Uhr

Jetzt erst verstehe ich, was mein kleiner Bruder in ähnlicher Panik durchmachte, nachdem ihm im Kindergarten von Bakterien erzählt worden war. Ich erinnere mich noch an ein gemeinsames Mittagessen, bei dem er schlagartig weiß im Gesicht wurde und fast aufhörte zu atmen. Erst liebevolles Insitieren meiner Mutter brachte den Grund dafür aus ihm heraus: Er hatte vergessen, sich vor dem Essen die Hände zu waschen.
Um neues Geschirr kamen wir glücklicherweise herum.
ginko - 31. Dez. 2006, 20:16 Uhr

Wahrscheinlich ist es besser, solche Phasen in der Kindheit durchzustehen. Im Erwachsenenalter hätten Sie dann wahrscheinlich unter einer Zwangsstörung gelitten.
che2001 - 1. Jan. 2007, 18:41 Uhr

Vielleicht ist das ja das Geheimnis: Wir hatten unsere heftigen, aber überwundenen Angstphasen in der Kindheit. Die Generation nach uns hat Magersucht, Neurodermitis, Hirngastritis, Waschzwang und Autoaggression in der Adoleszenzphase.


Ansonsten willkommen im neuen Jahr!
viktorhaase - 1. Jan. 2007, 17:30 Uhr

ha!

erstens: tolle geschichte.
zweitens: ich hatte nie angst vor bakterien!
drittens: ich hatte höllische angst vor mitessern!
viertens: alles gute für 07!
DrNIx - 2. Jan. 2007, 12:25 Uhr

Aufgewachsen auf dem Lande, der Misthaufen hinter dem Haus. Eine solche antibakterielle Phase hätte ich vermutlich nicht überlebt.
Modeste - 2. Jan. 2007, 23:23 Uhr

Da, Che, magst Du recht haben. Vielleicht ist es mit den Ängsten wie mit den Kinderkrankheiten: Einmal überwunden, bekommt man sie nicht ein zweites Mal. Ihr Bruder, Frau Kaltmamsell, dürfte heute auch nicht mehr unter derlei Phobien leiden, habe ich recht? Dass man nicht als Erwachsene mit derlei Unsinn ansitzt, Gino, ist ja auch sozusagen lebensrettend. Was sollte man auch sonst tun in der dreckigsten, aber schönsten Stadt Deutschlands, die es schlankerhand mit jedem Misthaufen, DrNix, aufnehmen kann.

Vor Mitessern, Herr Haase, habe ich mich dagegen nie gefürchtet. Den berühmten Pickelalarm, bei dem Leute sich nicht vor die Tür trauen, kenne ich eigentlich nicht.
saoirse - 3. Jan. 2007, 1:38 Uhr

hätte ich das vorher gelesen, meine gute, wäre ich ihnen nicht kurz nach mitternacht mit den milliarden von unterwegs aufgesammelten keimen um den hals gefallen, um ihnen ein keimfreies jahr des schweins zu wünschen.
das ist überhaupt die idee: in ganz berlin war kein taxi zu kriegen, aber man hätte ja einen (hoffentlich sterilen) krankenwagen rufen können, um zur nächsten party zu fahren.
che2001 - 3. Jan. 2007, 10:34 Uhr

Normalerweise braucht man den Krankenwagen doch erst nach der
Sylvesterparty ???
Frau Stella - 6. Jan. 2007, 10:26 Uhr

Damals war die Wichtigkeit,Kinder mit Bakteriern und Keimen zu konfrontieren , damit sie ein gutes Immunsystem aufbauen können, leider noch nicht bekannt.
Vielleicht hätten sie sich, wenn sie damals auch davon gehört hätten, dann mit Freude in den Mikroben gesuhlt. ...aber so haben sie immerhin ein eigenes Geschirr bekommen....
Modeste - 7. Jan. 2007, 22:42 Uhr

... das ich teilweise immer noch habe.

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