Eis

So kalt, so zehenzerstörend eisig, so kalt, dass auch nach einer Viertelstunde in einem warmen Raum die Hände noch en bißchen schmerzen, war es zuletzt in dem Winter, als ich nach Berlin kam. In Friedrichshain wohnte ich damals, Hinterhaus und praktisch unbeheizbar. Es war den ganzen Tag dunkel in meiner Wohnung und Berlin generell, und jedes zweite Haus sah aus, als sei der zweite Weltkrieg gestern zuende gegangen.

Jeden Morgen verließ ich als wahrscheinlich einzige Hausbewohnerin die Wohnung, und jeden Morgen prosteten mir drei, vier heruntergekommene Männer um die vierzig mit roten Gesichtern und dicken, billigen Steppjacken zu. Doppelkorn und Bier. "Hey, Mädchen!", brüllten sie und boten unermüdlich, jeden Morgen wieder, Getränke an, während ich versuchte, auf dem Weg zur U-Bahn nicht auszurutschen. Gestreut wird in Berlin aus Prinzip nur ganz selten.

Nach einer Weile hasste ich die Männer. Ich hasste ihre alkoholischen Atemwolken, ihre bunten Jacken, ihre roten Gesichter mit den aufgesprungenen Adern. Ihre Hunde hasste ich sowieso. Abends amüsierte ich Menschen, die ich kenne, mit langen Ausführungen über allzu exzessiv vergebene Sozialleistungen, die es Leuten erlauben, den ganzen Tag am Kiosk zu trinken und Passanten Bier und Korn anzubieten. Am Morgen fühlte ich mich manchmal wie Margaret Thatcher. Bevor es schlimmer wurde, zog ich weg.

Hier, wo ich jetzt wohne, seit mehr als fünf Jahren, gibt es keine Leute mehr, die Bier und Korn trinken. Wer sich hier betrinkt, wählt mit Sorgfalt. Wer hier verzweifelt, bleibt zuhause, und sogar der Kiosk um die Ecke führt Biomarmelade und dunkle Schokoladen mit Salz. Schön ist es hier, und weg will ich so schnell nicht. Doch wenn es kalt wird, wenn der Schnee auf den Gehwegen gefriert und buckelig wird, wenn die Füße in den Stiefeln blau werden und dick, wenn die Hände schmerzen: Wenn es wirklich Winter ist in Berlin, dann frage ich mich, was aus den Männern am Kiosk wohl geworden sein mag. Ob sie noch leben. Und ob es ihnen gutgeht, mit Bier und Korn und in billigen Jacken. In Friedrichshain oder wo auch immer.

virtualmono - 7. Jan. 2009, 0:39 Uhr

Berlin...

... ist laut und kalt und stinkt - ist es ein Wunder wenn man trinkt?

Wiglaf Droste - Die schweren Jahre ab dreiunddreissig
Modeste - 7. Jan. 2009, 23:08 Uhr

Wohl wahr, wohl wahr. Prost.
Frau F. - 7. Jan. 2009, 8:05 Uhr

Ich begegne ihnen manchmal beruflich, bei diesen Temperaturen meist in ihren Wohnungen. Da trifft man dann auch ihre Kinder, die so dünne, durchsichtige Haut haben, und blau-braune Ringe unter den Augen. "Do Kleen koscht wieda so, musse zum Arzt mit gehn!", motzen sie ihre Töchter an, die die Mütter der Kleinkinder sind. Die Herren selbst haben oft ganz schwarze Beine, wenn sie nämlich auch Diabetes haben, was gar nicht so selten ist. Rauchen und trinken natürlich weiter. "Mann, Frau F., isch hab doch sonst nix mehr im Leben!", sagen sie. Fenster steht immer auf Kipp, immer, auch bei minus 15 Grad, "Der Rauch muss doch abziehn!", die Heizkostennachzahlung wird nur teilweise von der ARGE übernommen, weil "unangemessen". Logo. Heißt aber: Schulden beim Energieversorgen. Zusätzlich zu den Schulden bei Quelle, Vodafone, Telekom etc.
Die Frauen der Bierundkornmänner räumen derzeit die Weihnachtsdeko weg, die teurer war, als die kompletten Lebensmittelausgaben für Dezember. Ihnen ist das warme Licht der Lichterketten aber wichtiger als eine warme Suppe. Sie kaufen auch ihrer warmen Katze nur das teure Markenfutter. "Den Frass von Aldi krischt meine Minka nisch!". Damit Minka nicht dieses Jahr wieder zwei mal sieben Kätzchen bekommt, habe ich einen Freund, der sich dunkle Schokolade mit Salz leisten kann, überreden können, die Sterilisation des Viehs zu bezahlen.
Und so weiter und so fort. Und doch: Ich bin ganz gerne dort, in den zugigen Sozialwohnungen, die vor 20 Jahren das letzte Mal renoviert wurden. Ich werde immer herzlich empfangen und verabschiedet. Es wird immer Klartext geredet und nichts nachgetragen. Die Ernsthaftigkeit, mit der der Bierundkornmann durch das Fenster in die Winterdämmerung schaut, rührt mich.
Modeste - 7. Jan. 2009, 23:14 Uhr

Ein schöner Text, Frau F. Dankeschön. Ich kann das im Übrigen gut verstehen, die Leute haben kein leichtes Leben, und man neigt dazu, über dem Kopfschütteln, wie man sich ein schweres Leben noch schwerer machen kann, zu vergessen, dass die Männer mit dem Frühstücksbier eine eigene Würde besitzen, die schön sein kann, bisweilen. Sicher ist man auch nicht ganz gerecht. Viel von den Verhaltensweisen, die man den Armen übelnimmt, fallen bei anderen Leuten schlicht nicht so auf. So ist es recht unauffällig, wenn die Frau vom Arzt schon vormittags Champagner trinkt. Oder der Unternehmersohn auch mit 40 noch nicht mit Geld umgehen kann und ständig zuhause schnorrt. Man misst da möglicherweise mit zweierlei Maß, weil die eine Erscheinungsform der Lebensuntüchtigkeit halt hübscher ausschaut als die andere.
CurlyVonGold - 7. Jan. 2009, 17:31 Uhr

Das haben Sie sehr schön geschrieben, beide.
Beruflich war auch ich in den letzten Wochen bei "solchen" Familien. Es ist erschreckend, wie unsicher sie mit ihrem Kind umgehen, obwohl es doch das vierte ist. Aber die Bemühung ist echt. Auch wenn kurz vor unserem Besuch gelüftet wird. Und die Zahnpasta den Alkoholduft kaum überdeckt. Das Baby soll eine Stunde am Tag auf den Balkon. Mindestens. Wegen der frischen Luft.
Modeste - 7. Jan. 2009, 23:16 Uhr

Oje. Der arme Wurm. Ich habe mich immer gefragt, wieso es bei manchen klappt und bei anderen nicht, wieso einige Familien trotz beengtester Verhältnisse großartige Kinder haben, die alle Chancen nutzen, interessant sind und etwas interessantes machen, und wieso es oft so schiefgeht.
DesEsseintes - 7. Jan. 2009, 18:18 Uhr

Mitunter hat ja der aufstiegsresistente Alt-Ossi, den Sie so klischeereich schildern, mehr Bezug zur Gegenwart und - horribile dictu - zur Kunst als der Bitterschokoladen-Auskenner aus dem Wohlstandgebiet, der davon bloß endlos schwadroniert und in der Schaubühne und sonstwo bei Schubert und Tschechow gediegen versumpert. Nur als Beispiel:
http://www.amazon.de/Das-Provisorium-Wolfgang-Hilbig/dp/359615099X/ref=sr_1_3?ie=UTF8&s=books&qid=1231347751&sr=8-3

Mal im Ernst: Wer im bürgerlich-anständigen Sinn was "auf die Reihe kriegt", kriegt meistens nicht wirklich allzuviel auf die Reihe. Zumindest nicht so viel, daß mir der Brustton der Selbstgerechtigkeit angemessen erschiene (den ich aber aus Ihrem Beitrag keineswegs heraushöre). Er hält sich bloß mit Erfolg an die Ideen seiner Vorfahren und seiner sogenannten besseren Erziehung.
Modeste - 7. Jan. 2009, 23:19 Uhr

Hm. Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass man Unterschicht und Bürgertum gegeneinander ausspielen kann und sollte. Da hat wohl jede Gruppe ihre ganz eigenen Fehler. Was aber das Kunstverständnis der Frühstücksbiertrinker angeht, mag ich mich nicht äußern, davon verstehe ich nichts. Ich habe da so meine Zweifel, aber die mögen unberechtigt sein.
che2001 - 9. Jan. 2009, 9:00 Uhr

Ganz recht, ob jemand in oder aus Armut versumpft oder als Teil der "besseren
Gesellschaft" statt Bier und Korn Koks und Single Malt konsumiert ist ein nach außen hin
signifikanter, aber in der Sache nichtiger Unterschied. Und ich weiß nicht, ob so manche
sogenannte "Mehrleister" tatsächlich mehr leisten als HartzIV-Empfänger mit Kindern,die
immerhin ihre Familie irgendwie durchschleppen. Habe selber diesen Typ Vorgesetzten
erlebt, der nichts selber macht, sondern ausschließlich Aufgaben verteilt und Ergebnisse
abfragt, die er den Chefs dann vorträgt, und wenn ihm gekündigt wird das mit einem
Lächeln trägt, weil seine Vermögensverhältnisse insgesamt so gut sind, dass er komplett
schmerzfrei durchs Leben gehen kann.
Modeste - 10. Jan. 2009, 13:04 Uhr

Ach, ein schlechter Mensch kann doch jeder sein, unabhängig von Herkunft und Position. Man mag es halt, wenn die Schlechtigkeit sich etwas dezenter äußert, ansonsten hast Du natürlich recht.
mark793 - 10. Jan. 2009, 0:53 Uhr

So ein Geselle zog irgendwann ins Erdgeschoss von dem Mannheimer Mehrparteienhaus, in dem ich lange Jahre wohnte. Hat mich auch oft genug genervt und abgestoßen mit seiner ordinären Art, seiner offensichtlichen Schmerzfreiheit was seine Außenwirkung angeht. Seine fidelen Kumpels in verschitzten Unterhemden, die es im Innenhof vor allem dann so richtig krachen ließen, wenn man wegen großer Sommerhitze eh nicht gut schlafen konnte. Da habe ich mich auch mehr als einmal bei Gedankengängen ertappt, dass das Amt seine Zuwendungen ruhig etwas selektiver oder zumindest wohlüberlegter vergeben könnte.

Im ersten Stock dann Kontrastprogramm: Ein Arzt mit patenter Frau und klavierspielendem Sohn, eher der leise und leicht zerstreut wirkende Typ.

Nun kam es aber ein, zwei Mal pro Halbjahr vor, dass in diesem Teil des Hauses richtig Randale war, Gebrüll, zerdepperte Flaschen und Gläser, Türenschlagen und An-die-Wand-Gehämmer, das volle Programm. Und eigentlich hätte ich erwartet, dass dieser Mordskrach von dem schnauzbärtigen Walross im Erdgeschoss kommen muss. Ja, von wegen. Das war der nette Herr Doktor, bei dem es ab und zu mal so richtig aushakte.

Als ich vor ein paar Monaten mal wieder in der Stadt war, habe ich es mir nicht verkneifen können, da mal vorbeizufahren. Die meisten Namen auf den Klingelschildern sind noch die mir bekannten. Sowohl der Arzt als auch das Proll-Walross wohnen noch da. Ihre Söhne werden beide schon aus dem Haus sein, und es werden sehr unterschiedliche Lebenswege sein, die sie jeweils einschlagen, da bin ich mir ziemlich sicher.
Modeste - 10. Jan. 2009, 13:09 Uhr

Das ist ja das eigentliche Problem: Der Mangel an Chancengerechtigkeit. Ich bin mir inzwischen sehr unsicher, ob das überhaupt möglich ist, immerhin kann es niemand irgendwelchen Leuten verbieten, ihre Kinder mehr zu fördern als andere. Vielleicht muss man mit diesen Unvollkommenheiten leben und die unterschiedlichen Produkte der unterschiedlichen Milieus mit einer gewissen Demut vor dem Schicksal betrachten und sich mit Werturteilen zurückhalten.
mark793 - 10. Jan. 2009, 18:27 Uhr

Ja, sich von den Werturteilen und den daran hängenden vorgefassten Meinungen und Erwartungen lösen zu können, das ist nicht die leichteste Übung in diesem Zusammenhang. Von daher bin ich um die Jahre in diesem wirklich sehr gemischten Multikultiviertel dankbar. Allein die Mischung von Leuten in diesem Eckhaus würde jemandem literarisch Begabteren Stoff für einen ganzen Roman in der Tradition von "Berlin Alexanderplatz" liefern.

Aber zum Thema Förderung der Kinder noch ein kleiner Nachtrag: Unsere Kleine besucht ja auch einen Early-English-Kurs, und ich hatte den Eindruck, das sei überwiegend eine Veranstaltung für das gehobene Bürgertum. Vor Weihnachten richtete diese private Einrichtung eine Weihnachtsfeier aus, und da sah ich mal einen breiteren Querschnitt der Elternschaft. Da waren auch viele Türken-Mamis mit Kopftuch dabei, einfacher gestricktes Volk, das sich die Kursgebühren anscheinend vom Zahnarzt-Zuzahlungsbudget abspart. Dass diese Leute zumindest Anstrengungen unternehmen, damit ihre Kleinen künftig vielleicht mal mehr Chancen haben, hat mich doch irgendwie sehr positiv überrascht.
che2001 - 12. Jan. 2009, 10:27 Uhr

Ich wohnte mal in einem Haus in sehr illustrer Umgebung (neben dem Puff, gegenüber
der Uni und in einer Autonomen-WG), da hatten wir über uns erst ein Rentner-Ehepaar
und dann eine Hartproll-Familie wohnen, unter uns Leute aus der ganzen Welt, von Afrika
über den Balkan bis Kurdistan und Armenien. Als einziger Deutscher wohnte im
Erdgeschoss ein Fernfahrer. Der kam meist morgens um 6 nach Hause und drehte dann
Heavy Metal so laut auf, dass mein Hochbett wackelte. Keinerlei Bitten, Ermahnungen
oder Drohungen brachten ihn dazu, leiser zu drehen. Dann schmiss der albanische
Nachbar kurzerhand einen Backstein durch die Fensterscheibe, und es war Ruhe. Jau,
das waren wirklich lustige Zeiten...

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