Öffentliche Angelegenheiten

Am Ende der Nacht sitze ich bei C. auf dem Sofa. Wir trinken indischen Gin, weil die Flasche noch vorrätig ist in diesem ansonsten ziemlich abstinenten Haushalt, und die C. spricht über Helmut Lang. Ich schaue ein bißchen aus dem Fenster und überlege, ob es sich noch lohnt, schlafen zu gehen.

„Ist dein Freund nicht da?“, frage ich C., und diese verweist auf ein Seminar, dass diejenige Parteistiftung gerade veranstaltet, die aus unerklärlichen Gründen dem Freund der C. das Studium bezahlt hat. „Auf eine Partei wäre ich ja nie im Leben verfallen,“, teile ich der C. mit. „Du liest doch nicht einmal den Politikteil.“, lacht die C. und stubst die FAS an, die zerblättert vor meinen Füßen auf dem Boden liegt. „Das ist so nun auch wieder nicht richtig,“, streite ich ab. Die C. wehrt ab. Ihr bräuchte ich nichts vormachen. Im übrigen hätte ich auch recht: Politik habe angesichts der Globalisierung jede Gestaltungsmacht verloren, und welche Partei die Regierung stelle sei ganz und gar Wurst.

Ob diese doch eher etwas grobschlächtige Auffassung nun tatsächlich den Realitäten entspricht, kann durchaus dahingestellt bleiben. Faktum scheint aber zu sein, um ein Fazit eines übermüdeten Frühstücks und einen langen Spaziergangs dazu zu ziehen, dass sich vielleicht nicht die Politik von der Gestaltungsfähigkeit verabschiedet habe, sondern schlicht die Gesellschaft von der Politik. Und das hat keineswegs etwas mit Politikverdrossenheit zu tun.

Der T. etwa, jener freundliche und gutaussehende junge Herr, ist, wenn ich es richtig verstanden habe, sogar Mitglied einer unterhaltsamen Partei, der auch S. angehört. Beide gehen regelmäßig wählen, glauben an die arbeitsplatzvermehrende Wirkung von Unternehmenssteuersenkungen und Sozialhilfekürzung, und haben sogar ein paar Bücher, in denen Spitzenfunktionäre des deutschen Verbandswesens die deutsche Misere beklagen. Zum Glück sprechen sie selten davon.

Der J. wählt schwarz oder grün, je nachdem, wer zur Wahl steht, und pflegt jenen beiläufigen Liberalismus, in dem jeder alles machen kann, es sei denn, er träte J. dabei zu nahe. Fragt man ein wenig nach, so erhält man als J.´sches Lösungsangebot für schwerwiegende Probleme der Republik einen etwas wolkigen Appell an das Pflicht- und Anstandsgefühl der Deutschen, die sich mehr fragen sollten, was sie für die Gesellschaft tun könnten. Vom Rest meiner Umgebung kann ich nur raten, ob und was sie wählen oder denken. Ich tippe auf ein ausgeglichenes Verhältnis von 50 % Grün, und jeweils 25 % gelb und schwarz. Die Sozialdemokratie hat meines Wissens keine real existierenden Anhänger unter 50 mehr und wird demnächst aussterben, aber diese Vermutung kann auch auf einer Sinnestäuschung oder der zufälligen Zusammensetzung jener Menschen, die mir ihre politische Haltung mitteilen, beruhen.

Die untergeordnete Rolle der Politik im Kanon der Dinge, über die ich sprechen höre, steht in einem geradezu schreienden Gegensatz zu der zentralen Rolle, die alle politischen Angelegenheiten im Leben der heute Sechzigjährigen einnehmen. Vermutlich hat das 20. Jahrhundert alle in diesem Universum verfügbare politische Leidenschaft endgültig verbraucht. Zwar habe ich irgendwo erst letztlich gelesen, den meisten Menschen seien politische Themen außerordentlich wichtig, und nur die Mechanismen der real existierenden Politik hielten die Bevölkerung von politischem Engagement ab. Die Gesellschaft warte geradezu mit angehaltenem Atem auf mutige Reformen, entschlossene Führung und breite gesellschaftliche Diskussionen, aber das ist natürlich alles Kokolores: Die Gesellschaft, soweit sie sich mit mir unterhält, wartet auf gar nichts, leidet an gar nichts, und erwartet von der Politik im wesentlichen einen störungsfreien Verlauf der öffentlichen Angelegenheiten. Grundlegende gesellschaftliche Defizite hat mir gegenüber schon lange keiner mehr beklagt. Unter den Themen an den Tischen, an denen ich esse, nimmt die Politik weit weniger Raum ein als die Gartenbaukunst – und niemand von uns besitzt überhaupt einen Garten. Weder Arbeitslosigkeit, noch Bürokratieabbau, weder die Steuerreform noch der Umbau des Sozialversicherungswesens, bringt irgend jemanden, den ich kenne, um den Schlaf. Hier gibt es ebenso wenig drängenden Reformwillen wie wütende Besitzstandswahrung.

Ob die Gleichgültigkeit gegenüber der Politik eine vernünftige Haltung darstellt, darf selbstverständlich bezweifelt werden. Vermutlich will der Rest der Welt sich vielleicht zu recht von Menschen wie uns ohnehin nicht regieren lassen. Aber wer, so fragt man sich manchmal, wird denn eines Tages in zwanzig Jahren oder fünfzehn die Regierung stellen? Werde ich, wenn es mir 2014 einfällt zu wählen, irgendeinen pickligen Nerd zum Bundeskanzler küren müssen, weil er weiland aufgrund von schlechtem Aussehen und minderer Intelligenz außer der Ortsgruppe der JU Pfaffenhofen keine Möglichkeiten der Freizeitgestaltung hatte? Besteht die Bundestagsfraktion der Grünen dann irgendwann aus meiner Nachbarin im Studium, die immer so weinen musste, wenn sie von Armut in der Dritten Welt oder dem Holocaust las?

Im Zweifel wird mir das egal sein, aber besser wäre es schon, es wäre anders. Wie wird es die Politik verändern, wenn sie keine emotionalen Reaktionen mehr auslöst? Wird eine kühle, technokratische Sachpolitik jenseits der Träume und Visionen vielleicht reibungsloser funktionieren? Oder hat die Presse recht, die Gesellschaft schreit nach Veränderungen - oder eben nicht – und nur in meiner Luftblase, irgendwo am Grunde des Meeres, schreit halt keiner?
Booldog - 21. Mär. 2005, 11:47 Uhr

Ich kenne keine Neoliberalen, aber mich würde tatsächlich mal interessieren, ob es einen Pseudoliberalen gibt, der wirklich an das Argument glaubt, daß die Senkung von Unternehmenssteuern signifikant Arbeitsplätze schafft. Das ist doch das Billigheimer-Argument, das nur die anderen glauben sollen, dachte ich immer.
Modeste - 21. Mär. 2005, 12:32 Uhr

Hmmm...ich kenne, glaube ich nur Liberale, die sich durch eher lebensweltlich angelegte Nuancen voneinander unterscheiden. Den beiden bekennend Neoliberalen in meinem Umfeld glaube ich aber, dass sie tatsächlich eine angebotsorientierte Politik für hilfreich halten. Allerdings dürfte das Arbeitsplatzargument in diesem Zusammenhang zweitrangig sein, da geht es eher um Wachstum und internationale Konkurrenzfähigkeit. Ich habe mir das mal ausführlich von einem neoliberalen Wirtschaftswissenschaftler erklären lassen, das Modell aber anscheinend nicht ganz gerafft.
Booldog - 21. Mär. 2005, 12:45 Uhr

Erleuchtung

Gerade sah ich einen Moment lang auf die durch Sonnenstrahlen hellerleuchtete Hausfassade gegenüber, und mir ging, zusammen mit "internationale Konkurrenzfähigkeit", der Begriff "Eschatologie" durch den Kopf. Kann es sein, daß das der Kern des neoliberalen Mystizismus ist?
Weltweite Dependancen statt Wehrbauern im Ural? Der ökonomische Endsieg?
Booldog - 21. Mär. 2005, 12:56 Uhr

(Spontane These: der Neoliberalismus hat eine unwiderstehliche Anziehungskraft - auch für Teile der Gesellschaft, für die er den natürlichen Freßfeind darstellt - weil er gegenwärtig die einzige scheinbar fundierte (weil pseudowissenschaftliche) und zugleich eschatologische Ideologie ist. Denn - These 2 - Menschen brauchen eine Weltanschauung, die auf irgendwas zusteuert.)
Modeste - 21. Mär. 2005, 14:26 Uhr

Ach was, der Neoliberalismus hat diese Faszinationskraft, weil er stark und mächtig erscheint. Wäre die ecclesia una et sancta nach wie vor ähnlich mächtig, würden sich diese Leidenschaften am überzeitlichen Heil festmachen. Ich denke überdies nicht, dass der Mensch eine Weltanschauung braucht, ich lebe vorzüglich ohne, aber vielleicht wäre es besser, es wäre einem doch nicht alles so egal wie die Politik. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal den SZ-Hauptteil vorm Wegwerfen auch gelesen habe.
Booldog - 21. Mär. 2005, 15:03 Uhr

Wenn schon nicht direkt löblich, so immerhin wunderbar verderbt.
Die Herde dagegen scheint Umfragen, Expertenmeinungen und dieser blonden Ex-Stewardess hörig zu sein...
Booldog - 22. Mär. 2005, 0:31 Uhr

Booldog, der Zusammenhang zwischen Unternehmensbesteuerung und Arbeitsplätzen ist nicht gleichbedeutend mit Neoliberalismus.

Wo zum Henkel habe ich das behauptet?

"Unternehmenssteuern senken schafft Arbeitsplätze" ist ein beliebtes neoliberales Argument. Ansonsten: gibt es irgendwelche thematischen Berührungspunkte Deiner Einlassungen mit meinen Kommentaren?
croco - 21. Mär. 2005, 15:59 Uhr

Ich versuche mir vorzustellen, in welchen Kreisen du dich bewegst. Hauptstadt? Gut verdienende Singels?Kaum Familien?Im Viertel wohnen ähnliche Leute?Wenig Ohnmacht?
Ich parke jeden Tag in der nähe des Arbeitsamtes, die Polizei ist direkt gegenüber, manche Kinder in der Schule kommen ohne Frühstück, sind bis Abends alleine, der Vater lebt anderswo, sie kommen nicht mit auf Klassenfahrt, sind sehr aggressiv, sie nehmen Drogen. Das ist nicht beliebig. Man wird politisch dabei, wenn man das alles sieht.
Modeste - 21. Mär. 2005, 16:30 Uhr

Natürlich, ernsthafte Probleme mag es von hier bis zum Mond geben - das bestreite ich nicht. Die Problembewältigung stellt indes nicht das Thema des Beitrags dar, hier geht es einzig um die Politikrezeption, und da fällt es eben auf, dass zumindest in meinem Umfeld (Jaja, Mitte/Prenzl´berg, und nein, Familien kenne ich schon aus Prinzip kaum) überhaupt niemand - mich eingeschlossen - ernsthaftes politisches Interesse aufbringt. Das mag man beklagen, aber zumindest ich werde schon von den Schlagzeilen der Zeitung jedesmal fürchterlich müde. Das mag alles anders aussehen, wenn man einen Gesellschaftsentwurf in der Tasche hat, der vielversprechender erscheint als die gegenwärtig bestehende Ordnung. Ist bei mir aber nicht der Fall, und wird wohl auch nichts mehr. Wenn eine romantische Revolution ausbricht, bin ich aber gerne dabei, wenn sie mich nicht vorher an die Laternen hängen. Eine Revolution denke ich mir ausgemacht unterhaltsam.

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