Freitag, 05.02.2010

Ich, meine Damen und Herren, erlebe annähernd nichts, und wenn jemals einer daherkommt, um mein Leben für das Vorabendprogramm zu verfilmen, wird das Ganze garantiert nach drei Wochen abgesetzt. Heute etwa war ich mit dem J. im Filetstück, und es war schon super da, der gemischte Vorspeisenteller mit einer göttlichen Leberwurst (ja, Leberwurst!), und danach 150 gr. Filet vom Freesisch Rind und Spitzmorchelrisotto dazu. Eine Flasche Duoro Tinto mit dem J. Objektiv und für den unvoreingenommenen Beobachter war der Abend aber vermutlich so amüsant wie drei Stunden vor einem Aquarium ohne Fische.

Weil wir nicht reserviert hatten, saßen wir am Fenster und sahen auf die Schönhauser Allee. Hastig und geduckt liefen Passanten unter den Schienen der Bahn hin und her. Die ganze Stadt ist überzogen mit einer buckeligen Eisschicht, und die Konzentration, die die nahezu unbegehbare Stadt erfordert, will man doch mal vor die Tür, macht die Berliner noch mürrischer als ohnehin. In den meisten Vororten ist zudem fast jeder hässlich.

In der Scheibe spiegelte sich der riesige Korbleuchter inmitten des Raums, und der J. kaute sein Entrecôte vom American Beef. Die anderen Leute im Lokal waren weder spektakulär schön noch außerordentlich extravagant, und sie haben auch nichts besonderes getan. Der J. schilderte den Diebstahl seines Kofferbandes mit der Aufschrift "59. Berlinale" durch ein paar unverfrorene Arbeiter am Band, die - beobachtet vom J. - das Band vom Koffer entfernt und sodann irgendwelchen Schabernack damit getrieben haben, und ich sah den Passanten hinterher und dachte darüber nach, ob denen in ihrem Leben eigentlich auch so langweilig ist wie mir.

Weil ich morgen früh mit der J. nach Prag fahre, sind wir nach dem Essen dann gleich nach Hause gegangen. Ich habe dem J. vom Chén Chè erzählt, wo ich Mittwoch abend war, und es war wirklich, wirklich nett und hübsch und sogar ganz lecker. Der J. und ich sind auf dem Heimweg mehrfach fast ausgerutscht, weil es überall so glatt ist, wie es eben wird, wenn Schnee zusammengetreten wird und mehrfach antaut und überfriert. Ich habe gegähnt und gepackt, weil ich morgen früh so lange wie möglich schlafen will, und dann stand ich im Bad, sah in den Spiegel, öffnete den Mund und zog ein paar Grimassen, damit es zumindest irgendetwas zu lachen gibt inmitten der Ödnis, die einem bleibt, wenn man so wenig mit sich azufangen weiß wie ich

arboretum - 6. Feb. 2010, 1:24 Uhr

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen in Prag. Dass Sie sich dort nicht so mopsen wie in Berlin.
blogger.de:energist - 6. Feb. 2010, 6:55 Uhr

Muß denn alles immer atemberaubend aufregend sein? Muß jede Sekunde des Lebens mit tausend Lichtern und rasanten Kameraschwenks brachial inszeniert sein?

Im Rückblick werden Sie, geschätzte Modeste, eines Tages vielleicht sagen können daß „diese schönen Jahre in Berlin“ die rundesten und glücklichsten waren. Ich kenne viele Menschen, die Sie darum beneideten. Das „per aspera ad astra“ mag dann und wann auch passen, aber gerade die leichte Gesetztheit, die Sie gerade so verdrießlich stimmt, läßt es zu, daß schöngeistige Gedanken sich überhaupt erst entwickeln und mitteilen.

Ich jedenfalls bedanke mich bei Ihnen, daß Sie ihr „langweiliges“ Leben leben und uns darüber auf die Ihnen ganz wunderbar eigene und einzigartige Weise informiert halten.
sjule - 6. Feb. 2010, 21:22 Uhr

Dem letzen Absatz meines Vorredners möchte ich mich anschließen.

Meine Wenigkeit, sich der Fortpflanzung beständig entziehend, verbrachte diesen Samstagnachmittag mit dem Bügeln von Tischwäsche. Die Freundinnen mit einem Haufen Nachkommen in der Provinz stellen sich mein Leben in der Hauptstadt bestimmt auch spannender vor. Aber ich mag nicht irgendwelchen Erwartungen Anderer entsprechen. Es ist natürlich besser, jede Menge Möglichkeiten vor der Tür zu haben und diese aus vielfältigen Gründen nicht zu nutzen, als sich die Gelegenheiten der Zerstreuung mühevoll zu erkämpfen.
Hier könnte man ja ständig aber man muß glücklicherweise auch nicht, es darf nur das Leben nicht enden mit dem Satz "Ach hätte ich doch..."

Immerhin haben Sie es schon ins Filetstück geschafft, ich blicke meist nur sehnuchtsvoll aus der U-Bahn hinab und bin die nächste Sekunde mit den Gedanken dummerweise schon wieder woanders.

Schöne Stunden in Prag!

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