Wandern
Ich glaube, wie waren im Harz. In unserer Jugendherberge hingen überall Brockenhexen herum. In den Zimmern musste man zu sechst schlafen, und mir gegenüber schlief ausgerechnet die D., die ich nicht leiden konnte, weil sie strohdumm war und trotzdem beliebt. Morgens musste man früh aufstehen, ich glaube, um sieben, und im Speisesaal, der natürlich auch voller Brockenhexen hing, an langen Tischen Früchtetee und schlechtes Brot frühstücken, zu dem es Margarine und Marmelade gab und Teewurst, vor der es mir grauste.
Jeden Tag mussten zwei andere Schüler Küchendienst leisten und abends die große Spülmaschine ausräumen. Immerhin entging man so der Deutschlehrerin Frau Dr. F., die nach dem Abendessen eine halbe Stunde vorlas, und zwar mit großer Treffsicherheit etwas komplett Ödes. Frau Dr. F. besaß das absolute Gehör für miese Bücher.
Nachts versuchten (wir waren dreizehn oder so) immer irgendwelche Jungen, ins Mädchenzimmer zu kommen, aber weil ohnehin alle Besucher für dieselben Mädchen kamen, zu denen ich nicht gehörte, stellte ich mich schlafend, wenn es nachts gewaltig gegen die Tür donnerte. Eins der begehrten Mädchen machte dann meistens auf. Irgendwie hatten sich ein paar der Besucher Obstwein verschafft, der ging dann herum. Neben uns schlief Frau Dr. F. und tat so, als würde sie das alles gar nicht mitbekommen. Wahrscheinlich las sie in ihren unverdaulichen Büchern, während meine Freundin S. das erste Mal geküsst wurde, um mir später zu erzählen, Jungen würden sich kalt und feucht anfühlen, nicht unähnlich kleinen Hunden.
Den ganzen Tag mussten wir wandern. Jeder sollte jeden Morgen einen Rucksack mit Brot und Wasser füllen, und dann liefen wir den ganzen Tag hinter Frau Dr. F. und dem Wanderführer her. Rechts waren Bäume, links waren Bäume, in der Mitte war ein relativ breiter, festgetretener Sandweg, und den liefen wir auf und ab. Landschaft sah man eigentlich keine. Ab und zu war irgendwo ein See. Zum Baden allerdings war es zu kalt. Nach fünf Tagen fuhr die ganze Klasse, nicht zuletzt Frau Dr. F., aufatmend wieder nach Hause, aß, was ihr schmeckte, schlief allein (auch Frau Dr. F.), und wanderte nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Ungefähr zwanzig Jahre lang bin ich nie länger als vielleicht so zwei Stunden am Stück zu Fuß gegangen.
Am Samstag aber wird sich das ändern. Die C. hat mich überredet. Wir fahren mit der J. und einem Drei-Personen-Gruppenticket nach Pirna, wandern zwei Tage durch die sächsische Schweiz und übernachten in einem Hotel an der Elbe, das zwar nicht nach Margarine aussieht, auch nicht nach Brockenhexen und Spülmaschinenausräumpflicht für Gäste, aber geküsst wird wohl keiner, nicht einmal von kleinen Hunden, und erst recht nicht .... aber lassen wir das.