Über Bücher

Sonntag, 18. April 2010

Der schale Lauf der Dinge

Georg M. Oswald, Vom Geist der Gesetze, 2007

Vor einem runden Dutzend Jahre saß ich – ein wenig gelangweilt, nehme ich an – in einem fensterlosen Hörsaal, und einige Meter vor mir lief ein älterer Herr in beuteligen Hosen hin und her und sprach über das Strafrecht, genauer gesagt: über die soziologische Komponente des Strafens und Bestraftwerdens. Was er ganz genau sagte, habe ich vergessen, aber sinngemäß und sehr ungefähr entnahm ich seinen Worten, dass wir alle Sünder seien, und die Armen, die Ungebildeten und die Ausländer säßen nur deswegen mehr im Gefängnis als andere Leute, weil sie weder am Erlass der Gesetze noch an deren Vollzug beteiligt seien.

Soweit ich mich erinnere, reagierte das Auditorium ungefähr so stumpf, wie es halt zu gehen pflegt, wenn jemand Dinge erzählt, die jeder weiß, und die Empörung des schon damals grauhaarigen Dozenten verpuffte ebenso wirkungslos in der abgestandenen Luft des Juridicums wie – zumindest nehme ich das an – sein Appell, sich stets daran zu erinnern, dass Juristen oft nicht Gerechtigkeit exekutieren, sondern die Summe der Vorurteile der herrschenden gesellschaftlichen Gruppen.

Ein paar Jahre später, ich hatte die Uni inzwischen verlassen, wurde mit diesem Dozenten eine ganze Generation emeritiert, deren stets reizbare Empörbarkeit meistens berechtigt gewesen sein mag, um sich trotzdem bisweilen schmerzhaft lächerlich zu äußern, und dass der Roman des Münchners Georg M. Oswald rein thematisch zumindest einen Hund wie mich nicht hinter dem Ofen hervorzulocken vermag, wird wohl auch damit zu tun haben, dass die Ungerechtigkeit auch in meinen Augen ein Übel darstellt, keine Frage, allerdings ein Übel, über das ich mich eher etwas seltener errege, und das öffentlich auszustellen jedenfalls kein Zweck ist, der das Mittel eines ansonsten eher etwas faden Buches zu heiligen vermag. Die Dinge – und die Anfechtbarkeit dieses Gleichmuts ist mir bewusst – sind, wie sie sind. In Oswalds Buch sind sie also folgendermaßen:

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Dienstag, 9. März 2010

Die kleine Schwester der großen Liebe

Irinas Buch der leichtfertigen Liebe, Tim Krohn

Manchmal sitzt man mit Freunden an einem Tisch irgendwo und spricht über die Liebe wie über eine ernsthafte Krankheit mit mal mehr, mal weniger schwerem Verlauf. Wie ein siamesischer Zwilling hängt an solchen Tagen an der Liebe das Problem, alles erscheint unglaublich problematisch, so schwer wie ein Wackerstein und so dunkel wie Schwarzbrot. Manchmal aber, seltener, wirft die Liebe alles ab, was muffig ist, tanzt in Chiffon und mit losen Locken barfuß über grünen Rasen, und verstrickt alles, was ihr in die Quere kommt, mit leichten Girlanden aus Rosen, grünen Blättern und Duft. In diesen Momenten wird es dann richtig gefährlich.

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Samstag, 16. Januar 2010

Vergiftet mit ihren Tränen

Eduard von Keyserling, Dumala (1908)

Einsam ist man in den Weiten des Ostens, in dem das alte, feudale Europa müde in verblassten Tapisserien friert, kraftlos wie der gelähmte Baron Werland in seinem Schloss Dumala, in dem ganze Flügel leer stehen, und die Mäuse hinter der Wand dem Ende dieser Welt entgegen nagen. Mit dem Baron friert seine schöne Frau Karola, sitzt des Abends neben ihm am Feuteuil und streichelt des Barons schmerzende Beine.

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Mittwoch, 6. Januar 2010

Der gewöhnliche Leser

Sechs, acht oder zwölf Jahre alt zu sein und am Nachmittag mit einer ganzen Tasche voller Bücher im Bett zu liegen, eine Tüte Kartoffelchips, die ich unters Bett schiebe, wenn auf der Treppe hoch zu mir Schritte lauter werden oder einer ruft. Hingerissen sein, weggespült werden und sich willig überwältigen zu lassen von dem, was einer mit 26 Buchstaben kann.

Größer zu werden. Groß, erwachsen sogar, und weiterzulesen im Bett, auf dem Sofa, im ICE, sich in Büchern zu suhlen wie in warmem, leuchtendem Schlamm. Schöne Worte, funkelnde Sätze abzulecken, glattzulutschen, zu kauen, zu schlucken und auswendig zu lernen, was man ganz und gar besitzen will.

Berührbar bleiben. Jedes Buch treffen wie eine Person. Ungerecht sein dabei: Den einen mag man, aller Unarten zum Trotz, und schließt ihn in die Arme mit allen Manierismen, Sommersprossen und Haaren an der falschen Stelle, und nimmt nicht einmal die falschen Konjunktive übel. Den anderen mag man nicht einmal gut gekämmt bei sich haben und wirft ihn beim ersten falschen Wort hinaus. Der Genuss, regellos zu lesen, lässig schwankend in den eigenen Maßstäben und den Experten in Redaktionen und Instituten von sehr weit weg zusehen, die ein anderes Metier betreiben als das des gewöhnlichen Lesers, den nicht Erkenntnisinteresse treibt, was und wie Bücher denn wären, nicht das bestellte Berufsrichtertum, auch nicht der literarische Verbraucherschutz für andere Leute, sondern einzig und allein die Freude, von dem zu sprechen, was man liebt.

Wir freuen uns über Ihren Besuch: Der gewöhnliche Leser

Samstag, 26. Dezember 2009

Im Entenfett

Sehen Sie hier, meine Damen und Herren, eine mittelalte und mitteldicke Dame in ihrem Nachthemd mit lustigen Volants im Bett sitzen und tippen. Was Sie nicht sehen: Diese Dame, verehrtes Publikum, ist ganz und gar getränkt mit Entenfett wie eine ägyptische Mumie mit Salben und Ölen. Auf dem Nachttisch zu ihrer Linken liegen wahnsinnig viele Bücher, entenfettdurchzogen auch sie, weil in den Regalen nebenan nun endgültig kein Platz mehr ist. Ganz oben liegt Iris Hanikas Treffen sich zwei, das ziemlich gut ist und von der Liebe zwischen einer hysterischen Galerieassistentin und einem Systemberater, beide so etwas über vierzig, handelt, wie die Liebe bei beiden zeitgleich in einem Café in der Oranienstraße zuschlägt, schwierig wird, zwischendurch ein bißchen unmöglich erscheint, und dann ganz klein, leise und schüchtern doch weitergeht.

Auf der Seite des geschätzten Gefährten J. (auch er riecht wahnsinnig intensiv nach Ente) liegt ein weiterer David Foster Wallace, weil der J. gerade im David Foster Wallace-Rausch lebt, und diesen nur unterbricht, um eine Runde an seiner sogenannten xbox zu spielen, die demnächst voraussichtlich kaputt gehen wird, wenn nicht ein Wunder passiert, und der J. von selbst aufhört, diese unwürdige Freizeitbeschäftigung zu pflegen. Möglicherweise, aber damit habe ich nichts zu tun, wird demnächst kaltes, gelbes Entenfett in ihr Inneres gelangen, und dann ist sie hin. Hierbei wird es sich um Zufall handeln, da bin ich mir sicher, denn überhaupt alles hier ist mit Ente ... nun, man möchte fast sagen: kontaminiert, und da kann so ein Suppenlöffel Entenfett schon einmal dorthin gelangen, wo man gar nicht mit seinem Auftauchen rechnet.

Die Ente selbst, deren Fettmoleküle die Wohnung gerade ganz und gar durchdringen, existiert indes schon seit so gegen acht nicht mehr, denn nach sieben Stunden Zubereitung

(30 Minuten bei 225°, sechs Stunden bei 80°, und dann nochmal 30 Minuten hochfeuern)

habe ich Brust und Keulen des Tiers auf vier Personen verteilt, die den Fleischteil der Ente nicht restlos, aber doch in den entscheidenden Teilen verzehrt haben, flankiert von Semmelknödeln, Rosenkohl, Rotkohl und einer Portweinreduktion. Dazu gab es einen Pfälzer Spätburgunder und vom Besuch mit Parmesan gefüllte und mit Schinken eingewickelte Datteln vorab.

Der nicht essbare Teil der Ente liegt nun im Abfalleimer. Ein nicht unwesentlicher Teil des Entenfetts dagegen hat sich (um es einmal ganz genau zu erläutern) erst bei zunehmender Erwärmung verflüssigt und ist dann in einen gasförmigen Zustand übergegangen, um sodann in Vorhängen, Bettwäsche, Kleidungsstücken und auf der eigenen Haut wieder zu erstarren: Viel von dem Entenfett durchflockt noch die Luft dieser Wohnung, sackt langsam ab und wird uns und alles, was in der Wohnung ist, in den nächsten Tagen mit einem dünnen, schmierigen Film aus Ente überziehen. Die Ente, so könnte man es vielleicht nennen, hat sich einerseits ausgedehnt, ist aber andererseits auch als Körper im Raum verschwunden.

Ziemlich lange nachdenken könnte man über dieses Verhältnis von Ausdehnung und Verschwinden, gewiss so lange wie David Foster Wallace über das Hummeressen und vor allem -zubereiten in Maine nachgesonnen hat, aber zum Glück neigen mittelalte, mitteldicke Damen mit Volants am Nachthemd nicht zum Nachdenken, zumal dann, wenn das Entenfett nicht nur den Gegenstand so einer potentiellen Überlegung darstellt, sondern ihr auch von innen wie von außen anhaftet, sich absetzend in den Poren ihrer Haut und tiefer vordringend in Hautschichten, in die nicht einmal die kosmetischen Labore gelangen, weil diese halt nicht sieben Stunden lag an etwas herumbrutzeln, und die Dame also nicht nur eine Ente zubereitet und eine Ente verzehrt hat, sondern vielmehr die Ente ist auf eine ganz gewisse Weise, und so wird die Dame, oh verehrter Leser, ihre fruchtlose Überlegungen über Enten nun beiseite legen und sich dem Nachleben des George-Kreises zuwenden und den Entenduft ignorieren, der auch diese Seiten streng durchweht.

(Und vielleicht hilft ja auch ausgedehntes Lüften)

Sonntag, 13. Dezember 2009

Der Dunst von Indochina

Diese Ungeheuerlichkeit, ein Land nicht einfach zu kaufen, sondern sich zu nehmen, gleichsam aufzuessen und als eigenes Fleisch am eigenen Körper zu tragen. Kleine Beamte aus der Provinz zu Herrschern zu machen, und mit ihnen Frauen zu senden, mit den Frauen Kinder, mit den Kindern Lehrer und all das, was man vermisst, wenn man am Ende der Welt in einem viel zu großen Haus ein viel zu fremdes Land regiert.

Das Land aber lässt sich nicht verdauen, und so wird Indochina nicht ein fernes, wärmeres Frankreich, sondern etwas ganz, ganz anderes, und im Dunst über dem Mekong, in den geschäftigen, schmutzigen Straßen Saigons entsteht eine eigene, unendlich flirrende Welt, über die man uns Schlechtes erzählt, und die wir uns doch schön vorstellen, träge und elegant: Staubige Straßen, Reisfelder, Bambus, Seide und lächelnde Diener. Die Schmerzen sehen wir nicht.

Die Liebe aber bleibt sichtbar. Vielleicht gerade, weil es eine kühle, ihrer selbst kaum bewusste Liebe ist, die die alte Marguerite Duras beschreibt, denn sie, die fünfzehnjährige Tochter der verwitweten Schulleiterin von Sadec ist keine Romantikerin, und was sie mit dem viel älteren, reichen Chinesen verbindet, ist mit S*x zwar nur ungenügend beschrieben, aber Liebe, Liebe in des Wortes reiner Bedeutung ist es nicht. Ein reines Utilitätsverhältnis aber mag man die Liaison auch wiederum nicht nennen, denn mehr als Geld und Lust und Hunger nach dem, was man so Leben nennt mit 15, liegt in der warmen, feuchten Luft dieses Romans, der 1984 erschienen ist, aber in den späten Dreißigern spielt, als die Herrschaft Frankreichs über diesen Teil der Welt schon müde geworden ist, und die Risse im Gebälk tief und sichtbar.

Dass es der Duras gelingt, eine Liebesgeschichte zu schreiben, deren männlicher Protagonist nicht begehrenswert erscheint, ein kraftloser, nicht einmal schöner Sohn, ist eine Kunst und zwar keine geringe. Ganz allein um das Mädchen kreist die Erzählung, die wie zum Hohn "Der Liebhaber" heißt, als ginge es nicht allein um die Seele des Mädchens, die sich seiner schwächlichen Liebe nicht ergibt: Wie ein Baum einen prächtigen Parasiten tragen kann, eine blühende, tödliche Orchidee, die schillert und wuchert und ihm den Lebenssaft nimmt, so trägt der chinesische Bankierssohn die Liebe und das Begehren des Mädchens auf seinem schmächtigen Körper, und bisweilen erinnert - bei allen Wüsten der literarischen Distanz - dieser Bericht über Leidenschaft und Kälte der eigene Seele an Stendhal, und wie bei jenem liegt unter der gläsernen Klarheit des Wissens um die Regungen des eigenen Ich eine zweite, feine, silbrige Membran, in der sich eine zweite, schwärzere Geschichte spiegelt, die die Duras nicht aufschreibt, und die sich doch erzählt.

Der Stil freilich hält auch mit geringeren Konkurrenten nicht Schritt. Assoziativ malt die Duras Pinselstriche, Tuschezeichen, ein paar Sätze lang und bisweilen rankend ins Entlegene. Ein längeres Buch hätte an diesem Makel gelitten, doch wenn der Chinese lange Jahre später am Telephon über seine Liebe spricht, sind noch keine 200 spärlich bedruckte Seiten vorbei, und wir verlassen Madame Duras mit dem verlegenen Lächeln der Ertappten, auch wenn wir kaum wissen, warum.

Marguerite Duras
Der Liebhaber
1984

Sonntag, 2. August 2009

Ehe die Träume rosten und brechen

Die Welt dieses wohl berühmtesten Romans der Colette ist 1914 untergegangen. Es gibt die Belle Epoque nicht mehr mit ihrem geschliffenen Kristall, ihren gefältelten Vorhängen, den Fauteuils aus gelber, grüner, granatroter Seide, ihren üppigen Kissen und Chinoiserien und den verschlungenen, haarfeinen Rissen in ihrer Robustheit, die wir bisweilen besichtigen, ohne sie doch ganz zu verstehen.

Zu den Eigenheiten, die wir nur erinnern, nicht mehr nachfühlen, gehört die Heuchelei in der Liebe. Gewiss, wir heucheln, wenn es um Geld geht oder um Macht. In der Liebe indes heucheln wir selten, weil niemand es uns verbietet, unsere Tage und Nächte zu verbringen, mit wem wir wollen. Entsprechend gibt es für junge Männer genügend junge Frauen für einige Nächte, ein paar Wochen oder Monate, und so bedarf es keiner Kameliendamen, keiner Kurtisanen, wenn ein Mann nicht allein schlafen mag, bis er ein junges Mädchen frisch aus dem Kloster heiratet. Die Geschichte der Kurtisane Lea, die mit 49 Jahren von ihrem letzten Liebhaber, Chéri verlassen wird, ist daher heute kaum mehr denkbar: Ein schöner, berückender junger Mann, ein gedankenloser und vor Jugend grausamer Adonis mit frauenhaft langen Wimpern und dem fast unwirklichen Glanz der Makellosigkeit mancher sehr, sehr junger Männer würde heute selten oder nie seine erste Liebe mit einer alternden Frau erleben, die es sich am Ende eines langen Lebens von und mit der Liebe wechselnder Männer erlauben kann, zu lieben, wen sie will, wenn sie nicht erwartet, dass diese Liebe ewig währt. Es wird wohl selten heute eine Liebe sterben, weil die geliebte Frau (und auch Chéri liebt Lea) eines Morgens - gerade als ihr junger Liebhaber zurückkehrt zu ihr - als alte Frau erwacht.

Unsere Ängste sind in diesem schmalen, kaum einen Sommertag füllenden Roman also nicht versammelt: Wenn ich 49 bin, werde ich nicht von einem Mann verlassen werden, der gerade 25 wird. Wenn ich 49 sein werde, kann ich, wie die Dinge liegen, kaum mehr erwarten, von jungen Männern überhaupt noch geliebt und begehrt zu werden, höchstens vielleicht ein wenig gefürchtet und mit Glück geschätzt. Und doch rührt mich die Empfindung, die Trauer um die Fähigkeit, Liebe und Begehren zu erregen, nicht nur wegen der eindringlichen Farbigkeit der Schilderung, der Sensitivität der Colette, die die Farben, die Textur und den Duft jedes Raums, jeder Landschaft mit feinem Pastell verzeichnet, die leisen, oft bösen Akkorde der Gespräche zwischen Personen nicht vergisst, deren keine ihr für das Portrait zu minder erschien, und auch nicht, weil es schwer ist, sich der charmanten und brutalen Attraktivität des Chéri zu entziehen, den man, stelle ich mir vor, im Museum auf den Bildern Caravaggios wiederfindet. Die Rührung beim Wiederlesen dieses Romans rührt vielleicht eher daher, dass der Kern meiner Angst vor dem Alter derselben geblieben sein mag: Diese Kinderangst, zu verschwinden, sich aufzulösen in Luft, unsichtbar zu werden, und sei es auch nur für die Augen der Liebe, der Begierde, der Lust, und zu fürchten, dass dann nichts bleibt als eine alte, faltige Frau, einsam am Fenster mit knotigen Händen und einem Strauß gelber Rosen auf dem Tisch, die sie sich selber kaufen muss, weil der Kredit unseres Lebens so wenig für ein bißchen Nachsicht und ein paar freundliche Illusionen ausreichen wird wie für die verlassene Lea de Lonval.

Colette
Chéri
1920

Freitag, 5. Juni 2009

Journal :: 04.06.

Nein, sage ich und schiebe mir ein weiteres Stück Rumpsteak in den Mund. Clemens Meyer hat mich nur sehr bedingt beeindruckt. Ich mag die oft derbe Sprache nicht so besonders, auch wenn die stilistische Gesamtkomposition alles in allem nicht unstimmig ist. Da ist schon was. Die einzelnen Geschichten dieses viel zu langen Romans um ein paar kleinkriminelle Jungen in der Leipziger Nachwendezeit sind auch teilweise nicht schlecht. Es kostet mich aber eine derartige Mühe, Interesse für die eher etwas randständigen jugendlichen Protagonisten aufzubringen, dass ich das Buch fast weggelegt hätte.

Nun gilt es ja als wünschenswert, sich für alles Menschliche zu interessieren. Man soll niemanden für seine ungepflegte Sprache, seine ungepflegten Träume oder sein ungepflegtes Äußeres verurteilen. Um 500 Seiten Papier zu lesen, reicht die Unterwerfung unter dieses gesellschaftliche Gebot der Vorurteilslosigkeit aber nicht aus, und da bieten mir Jugendliche, die sich prügeln und betrinken und zu grob sind, als dass ich sie gern bei mir zum Essen einladen würde, zu wenig Identifikationsfläche. Ich will nun nicht jeden Romanhelden lieben. Der Bel Ami ist ein grässlicher Kerl. Dostojevskijs Spieler ist fürchterlich in seiner Getriebenheit, und auch ein Sonnenkind wie Thomas Manns Joseph kann realiter schrecklich nerven. Eine Seite meiner selbst sollte aber auch ein abscheulicher Romanheld zum Klingen bringen, wie lächerlich dieser Wunsch auch sein mag, und in diesem, ganz und gar subjektiven Punkt sind mir die Gestalten Clemens Meyers so fern wie der Mars und so egal wie der Finanzminister.

Das ist kein schlechtes Buch, sage ich. Aber es hat mich nicht interessiert.

Clemens Meyer
Als wir träumten
2007

Sonntag, 24. Mai 2009

Journal :: 24.05.

Auf dem Weg zum Märchenbrunnen denke ich weiter über Siri Hustvedts Roman nach. Dass es stets riskant ist, wenn Autoren Kunstwerke etwas zu genau beschreiben, die ihre Protagonisten schaffen, fällt mir ein, ungefähr so, wie die wenigsten Schriftsteller ihren Geschöpfen einen Gefallen tun, wenn sie die Behauptung, jemand habe Humor, mit Beispielen unterlegen. Ist man nicht gerade Oscar Wilde (und wer ist schon Oscar Wilde?), dann geht das schief, und so belegen auch die seitenlangen Beschreibungen der Werke des Malers William Wechslers, der einen männlichen Hauptfigur von Was ich liebte, die Faszination nicht, die sie auf den Ich-Erzähler Leo Hertzberg ausüben.

Angenehm temperiert, filigran und doch glaubhaft wirken dagegen die Beziehungen der vier New Yorker untereinander: Das Ehepaar Erica und der Erzähler Leo, das in einer Art sorgsam gedrosseltem Glück miteinander lebt, bis das gemeinsame Kind bei einem Umfall stirbt. Das benachbarte, befreundete Paar William und Violet, der eine kühle, gläserne, erste Frau vorausging. Lucille. Das Altern beider Paare, die Beziehungen untereinander wie deren Veränderungen. Was Freundschaften sind, und vor allem: Was und worüber die Protagonisten arbeiten, denn tatsächlich irritiert mich an der deutschen Literatur der Gegenwart nicht selten, dass ihre Helden entweder gar nicht, oder irgendetwas sehr Seltsames tun, um ihre Miete zu zahlen. Etwas kupiert wirkt das nicht selten, denn das Leben der Menschen wird durch seine wirtschaftliche Seite ja meist nicht wenig geprägt. Zudem finden auch die großen Themen im Leben der Menschen zu einem ganz erheblichen Teil in beruflichem Kontext statt, und so empfinde ich es als angenehm, über die rund dreißig Jahre am Ende des letzten Jahrtausends, die der Roman umfasst, stets informiert zu bleiben, worüber die vier Hauptpersonen arbeiten und was sie denken. Insbesondere die psychohistorischen Arbeiten Violets nehmen so viel Gestalt an, dass ich sie gern gelesen hätte. Joachim Radkau fällt mir dazu ein, der vor circa zehn Jahren eine nicht unanfechtbare, aber lesenswerte Geschichte der Nervosität vorgelegt hat, die die pathologischen Auswirkungen des Vitalismuskultes im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik in Beziehung zu den Reaktionen und Entwicklungen seiner Entscheidungsträger gesetzt hat.

Etwas künstlich wirkt der Themenwechsel im letzten Drittel des Buches. Der Todesfall des kleinen Jungen von Leo und Erica und die schmerzlichen, erstarrten Reaktion der Eltern hierauf wirken noch sehr gelungen dem Fluß des Lebens entnommen. Dann aber wendet sich Hustvedt dem Werdegang des Buben von Lucille und William zu, der spektakulär missrät, sich in den Raves der Neunziger verliert, Drogen nimmt, pathologisch lügt und schließlich im Umfeld eines ebenso verdorbenen wie lächerlichen Künstlers in einen Mordfall verwickelt wird. Das Motiv des Bösen, des seine Eltern verzehrenden Wechselbalgs wird hier etwas zu stark betont, so, als habe Hustvedt am Ende ihrer Geschichte noch einen stärkeren Akzent setzen wollen, dessen es nicht bedurft hätte, um eine gute Geschichte über das Leben zu erzählen, seine Abgründe und Verwerfungen, die Nähe zu Nacht und Nichts in unseren scheinbar sonnigen Straßen, und dass es sich trotzdem lohnt, sich zu lieben und zu befreunden, einander gut zu sein, auch wenn, was wir tun können, nichts hilft gegen das Chaos, die Zeit und die Dunkelheit, die - doch scheinbar nur - stets stärker sind als wir.

Siri Hustvedt
Was ich liebte
2003

Samstag, 25. April 2009

In kalten Träumen

Manchmal bei Nacht gerät man in solche Welten. Es ist immer dunkel, fahl, die Sonne nicht sichtbar, und die Menschen scheinen - wie soll man es ausdrücken - durchtränkt von einer schwärzlichen Flüssigkeit. Die Welt überhaupt ist seltsam entfärbt. Der Traum hat Zeit und Raum die Richtung gestohlen; alles passiert gleichzeitig, und so verwundert es nicht, wenn in diesem düsteren, machtvollen Roman gleichzeitig der Römer Cotta nach Tomi reist, die eiserne Stadt am Schwarzen Meer, den verbannten Dichter Ovid zu suchen, und ein Filmvorführer dort eintrifft, in Mikrophone gesprochen wird, und ein Deutscher von den friesischen Inseln hängengeblieben ist hier am äußersten Rand des römischen Imperiums in einem großen Krieg.

Verformt, nein: sich verformend, scheinen die Bewohner Tomis. Was mit ihnen geschieht, geschieht vielleicht aufgrund oder aber vielleicht auch so wie es der verschollene Ovid aufgeschrieben hat, auf lauter kleine, wehende Fahnen, denn alles verwandelt sich hier, alles wird etwas anderes, Menschen versteinern, werden überlebensgroß und mythisch, das Stumme ist beredt, die Literatur webt die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit atmet die scharfe Luft jener Träume, in denen ein Mensch ein Wolf sein kann mit Haaren und Klauen, ein Dorfbewohner ein trauriger König, und jeder eines anderen Haut tragen kann, weil es in dieser Welt keine Unterschiede gibt, die nicht beizeiten verschwimmen.

En passant erzählt Christoph Ransmayr eine kleine Liebesgeschichte, sehr am Rande, zwischen Cotta und der stummen Echo. Eine Menge Geschichten werden so referiert, verwandelt nicht nur gegenüber den wehenden, verlassenen Skripten von Tomi, sondern auch (denn wir alle sind Teil der Handlung durch unser Wissen) gegenüber den Metamorphosen, dieser großartigen, unbescheidenen Dichtung, die wirklich und mehr als andere aere perennius aufgeschrieben und behalten worden ist bis in unsere spätesten Tage.

Ein postmoderner Roman sei Die letzte Welt, entnehme ich den Quellen im Netz. Was auch immer das bedeuten mag, diese Leerformel von der Postmoderne, die nicht mehr besagt, als das etwas vorbei ist, und etwas Neues noch nicht begonnen hat: Zu lesen lohnt es sich sehr, dieser Roman über die Wandlungsfähigkeit aller Verhältnisse, erst recht und in erster Linie sogar derjenigen, die wir für unabänderlich halten, weil der Verlust unserer selbst uns ängstigt und schreckt, mag auch die Erde beben.

Christop Ransmayr
Die letzte Welt
1988



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