Über Bücher

Dienstag, 17. März 2009

Die Liebe, die passiert

Ernö Szep, Die Liebe am Nachmittag, dtv 2009

Man kennt solche Männer: Mit zwanzig sind sie unwiderstehlich (oder fühlen sich zumindest so), und was auch immer sie tun, man nimmt es ihnen nicht übel. Mit dreißig dann haben sie alles gesehen und fast alles getan, und wenn man sie mit vierzig irgendwo trifft, umweht sie eine leise Müdigkeit, ein Hauch von Ennui, eine Langeweile, die der Ahnung entspringt, dass der Kelch des Lebens von ihnen so hastig herabgestürzt wurde, dass jeder neue Wein nur schmecken kann wie längst bekannte Getränke.

Meist ist gut auszukommen mit diesen Veteranen der Nacht. Anders als manch anderer wissen sie, nichts verpasst zu haben, und dass ihnen statt einer Karriere nur viele Erinnerungen bleiben, ist den meisten kein Quell der Verbitterung, sondern ein schieres Faktum. Ein Preis, den man bezahlt. Ein bisschen staunen solche Männer manchmal, wie vollständig das Leben anderer erscheint, aber selten spürt man – trifft man sie an irgendeiner Bar, auf einem Fest morgens um vier in der Küche – Neid. Es scheint sich ausgegangen zu sein, dieses Leben, auch wenn es leicht wiegen mag gegenüber denen, die in diesen Jahren schwer beladen mit Verantwortung und Erfolgen im Wirtschaftsteil der Zeitung stehen.

Lieben aber möchte man solche Männer nicht. Nicht die schiere Zahl der Vorgängerinnen (ach, Arithmetik), die Gewöhnung vielmehr ist es, was einen zurückschrecken lässt. Nichts, meint man zu wissen, wird man den Erinnerungen und Erfahrungen solcher Männer hinzufügen können, und so nennt folgerichtig Ernö Szeps Held Mihaly seine verheiratete Geliebte nicht einmal mehr bei ihrem Namen, sondern nur bei ihrem Parfum. Cinq-Fleur.

Ein wenig zu routiniert, ein bisschen zu gleichgültig läuft diese Liebschaft durch die Seiten. Man trifft sich, man telefoniert. Man schätzt sich. Man liebt sich ganz ausgesprochen nicht. Ein bisschen erschreckend fährt diese Affäre auf allzu glatten Schienen, und am Ende – das sieht man voraus – werden sich Mihaly und Cinq-Fleur nicht trennen, sondern einfach nicht mehr sehen. Auf dem nächsten Empfang, der nächsten Premiere, werden sie sich dann zunicken, freundlich, kein Grund zu Groll, und dann ist es vorbei.

Auch Iboly wird nicht geliebt. Dass Iboly, Schauspielschülerin mit Anfang zwanzig, sich in Mihaly verliebt, weil er Dichter war und Stücke schreibt, weil er charmant ist und ihr zuhört, mag man verstehen, und ein bisschen sorgt man sich um das junge Mädchen. Noch fünf Jahre vor Beginn dieses Romans wäre Mihaly vielleicht der Grund für Tränen und Szenen und ließe sich für ein, zwei Wochen oder gar Monate hinreissen. Nun aber ist Mihaly 46, und sein Wunsch nach Ruhe überwiegt seinen Wunsch, neben einer jungen Frau zu erwachen. Als Iboly sich ihm anbietet, weicht er aus.

So gut wie nichts passiert also in diesem Roman, der erstmals 1935 in Ungarn erschienen ist. Nichts weiter, als dass ein kluger und müder Mann in einem versunkenen und doch seltsam zeitlosen Budapest altert, sich dem Alter noch ein wenig widersetzt, sein früheres Selbst gelegentlich in der offenen Hand wiegt und einen leisen Abschied feiert von sich selbst, seiner Vergangenheit und einer Zukunft, von der er weiß, dass sie nicht mehr stattfinden wird, denn irgendwann liegt alles hinter uns, was wir hätten werden können, und wenig später auch: Was wir geworden sind.

Freitag, 30. Januar 2009

Calling Olimpia

Daniel Kehlmann, Ruhm, 2009, € 18,90

In einer der neun Geschichten dieses schmalen Bandes fällt eine Frau aus ihrem Leben einfach heraus. Auf einer Journalistenreise in eine namentlich nicht genannte Diktatur wird sie wegen eines Planungsfehlers in einem leeren Hotel untergebracht, am nächsten Morgen vergessen, ihr Visum läuft ab, und am Ende verliert sie sich irgendwo im namenlosen Nichts. In einer anderen Geschichte findet ein berühmter Schauspieler nicht in seine Existenz zurück, nachdem ein Doppelgänger seinen Platz eingenommen hat, jemand schickt sich todkrank zum Sterben und wird durch die Gnade seines Schöpfers erlöst, der nicht ein Gott ist, sondern ein Schriftsteller, und so verschwimmen quer durch diese lose verbundenen Episoden nicht nur die Identitäten, diese Kokons vermeintlicher Selbstverständlichkeiten, sondern die Grenze zwischen Existenz und Erfindung selber verliert Bedeutung und Gewicht, wird ebenso biegsam wie bodenlos und lenkt den Blick direkt auf das Prekäre, stets Gefährdete dessen, was uns ausmacht, wenn wir mehr sein wollen als Blut, Fleisch und Knochen.

Ein einziger Anruf, ein unbedachter Ausfallschritt, der Flügelschlag eines weit entfernten Wesens kann uns zerstören, behauptet Kehlmann und illustriert dies mit Beispielmenschen, die umhergehen, telefonieren, sich verlieben, Familie haben, arbeiten, schreiben oder geschrieben werden. Neugierig oft, stets amüsiert folgt man ihren Schritten, sieht ihnen zu, wie sie strampeln, laufen, sprechen, lügen, scheitern und leiden, und klappt nach zwei Stunden „Ruhm“ wieder zu. Als recht angenehm empfiehlt man das Buch seinem geschätzten Gefährten, und doch, meint man, stimme etwas nicht mit diesem Buch, ganz genau könne man nicht sagen, was. Ein Unbehagen mehr als ein Ärgernis. Dann ist es spät und man geht schlafen.

Das ist kein großes Buch, denkt man und legt seine Linsen in die weißen Schalen im Bad. Sicher hat man schlechtere, viel schlechtere Abende mit Büchern verlebt, überlegt man bei sich und putzt seine Zähne. Zwar sind die meisten - nicht alle - Beispiele klug gewählt, und bis auf eine (allerdings dafür sehr) missglückte Liebesszene und wenige etwas arg abgenützte Effekte und Einfälle geht sich alles rund und glatt aus und schnurrt reibungs- wie tadellos durch die knapp 200 Seiten. Doch am Ende, wieso auch immer, hinterlässt dieses Buch – das kein Roman ist, es sei denn in einem sehr erweiterten Sinne – eine seltsame Taubheit, nicht unähnlich der Empfindung nach Zahnarztbesuchen, eine Teilnahmslosigkeit, die erstaunt angesichts dieser Geschichten vom Grauen des Verlorengehens, und Stunden später erst, halbwach am Morgen zwischen vier und fünf, fällt es mir auf, dass nur echte Menschen Mitleid erregen und Erbarmen, Zorn über die Härten des Lebens und Freude über seine vollen Trauben. Dass Kehlmann fast perfekte Automaten geschaffen hat, täuschend echte Attrappen des Lebens auf den ersten Blick, und doch die Marionettenschnüre sichtbar gelassen hat, warum auch immer, und die Eierschalen der Imagination am Boden nicht gekehrt. Dass eine Geschichte, die von A nach B wandert - und zwischendurch passiert eine Menge - bisweilen nicht darauf angewiesen ist, wirkliche, warme und atmende Menschen durch die Wüste zu den Oasen oder ins Nichts zu schicken, überlege ich mir, aber ein Buch, das von der Zerbrechlichkeit des Lebens erzählt, Leben doch erst erschaffen muss, dessen Gefährdung und Untergang uns schmerzt wie der Tod der Rahel am Weg, das Leiden und Sterben der Anna Karenina, oder die Zerstörung Lolitas durch Humbert Humberts Liebe.

Sonntag, 28. Dezember 2008

Über Regierung

Christoph Möllers, Demokratie - Zumutungen und Versprechen, Wagenbach 2008, € 9,90

Es gibt ein vielfach verbreitetes Unbehagen an der Art und Weise, wie politische Entscheidungen in der Bundesrepublik getroffen werden. Oft steht hinter diesen Äußerungen die Vorstellung, es gebe eine „richtige“ Politik, die es nur zu erkennen (statt erst zu gestalten) gelte, und die bisweilen verschlungenen Wege demokratischer Willensbildung würden diesen Erkenntnisprozess eher behindern als fördern. In einer solchen Weltsicht erscheint dann weniger der manchmal fast unendliche Diskussionsprozess parlamentarischer Abläufe wünschenswert, sondern eine Art autoritäres Expertentum, das – beamtet oder bestellt – aus der Vielzahl denkbarer Handlungsalternativen die beste aussucht und verwirklicht. Ausfluss dieser sehr verbreiteten Ansicht ist neben dem bisweilen etwas hypertrophen Selbstbewusstsein der Ministerialbürokratie etwa das Kommissionsunwesen, das seit der Regierung Schröder die politische Willensbildung verschmiert.

Tatsächlich gibt es wenig Hinweise darauf, dass eine Expertenrepublik zu „besserer“ Politik führen würde, als der parlamentarische Betrieb. Wer dies annimmt, verkennt, dass es bei der Frage, wie regiert werden soll, grundlegende Vorfragen gibt, die nicht durch Sachkunde, sondern nur durch politische Entscheidungen getroffen werden können: Sollen die Belange der Tierschützer verwirklicht werden oder doch eher die der finanzschwachen Fleischesser mit ihrem Interesse an Schweinskoteletts zu € 2,99? Sind Arbeitsplätze in der Schwerindustrie wichtiger als der Schutz seltener, aber gutaussehender Kröten? Sollen die öffentlichen Schulen optimal auf die Bedürfnisse schwacher Schüler eingehen oder sollten die begrenzten Finanzen des Staates für die Spitzenförderung ausnehmend schlauer Kinder verwandt werden? Und wenn das Geld nicht reicht: Soll man Ausgaben kürzen, auch wenn die Gelder für an und für sich wünschenswerte Ziele ausgegeben werden sollen, oder sollen Steuern erhöht werden, und wenn ja: für wen? - Dass diese Fragen zu entscheiden nicht Sache von Experten sein kann, liegt an sich auf der Hand, denn niemand ist Experte für die Frage, welche Ziele eine Gesellschaft verfolgen soll, sondern höchstens dafür, wie man die einmal beschlossenen Ziele erreicht.

Bedauerlicherweise gibt es wenig lesbare Literatur, die das vorerwähnte Unbehagen thematisiert und auf seinen undemokratischen Kern hin untersucht. Eine Vielzahl politischer Bücher beschäftigt sich diesbezüglich mit Einzelfragen, und macht sich dabei den Wunsch mancher Bürger wie auch anderer Akteure nach einer Art Abschaffung der Politik nicht selten sogar zunutze. Manche andere, sicherlich verdienstvollen Werke scheitern an ihrer schlechten Verständlichkeit, zumal kaum jemand, dessen Beruf es nicht ist, derlei zu lesen, fette und anstrengende Wälzer schätzt, die man schon wegen ihres Umfangs weder in der Bahn noch im Bett konsumieren möchte.

Um so lieber empfiehlt man Ausnahmen wie das keine 150 Seiten lange Werk des Staatsrechtlers Christoph Möllers über Demokratie, in dem der Autor ebenso präzise wie temperamentvoll den Überdruss an demokratischer Politik von seiner narzisstischen Quelle bis ins Meer der unhinterfragten Fehlschlüsse nachzeichnet. Die leichte Lesbarkeit auch aufgrund der Rhythmisierung durch kurze, im Schnitt eine halbe Seite nicht überschreitende Abschnitte kommt dem faulen Leser zudem sehr entgegen.

Sonntag, 21. Dezember 2008

Fast bis auf den Mir Samir

Eric Newby, Ein Spaziergang im Hindukusch, 1958

Zu den charmanten Seiten von Engländern gehört der Sinn für nutzlose Dinge und Tätigkeiten. Wo die Deutschen, hat man den Eindruck, vom Reisen eine Art Ertrag erwarten, in Form von Bildung beispielsweise, in Bräune oder aber in der schwer fassbaren Münze der Spiritualität, reicht es den Briten (zumindest ihrem schreibenden Teil) offenbar, unterwegs gewesen zu sein, dort Erfahrungen gemacht zu haben, die ihnen daheim entgangen wären, und auf diesem Unterschied, nehme ich an, beruht der immense Qualitätsvorsprung der englischsprachigen Reiseliteratur vor der deutschen. Zwar gibt es auch in deutscher Sprache angenehme Ausnahmen. So hoch allerdings wie die zu recht sehr berühmte Schilderung einer Reise durch den Hindukusch von Eric Newby ragen aber auch die deutschen Spitzen selten, und dass ich nicht auf der Stelle aufgebrochen bin, gleichfalls ohne jede Kenntnis des Bergsteigens in Zentralasien den Mir Samir, einen sechstausend Meter hohen Berg, zu erklimmen, lag einzig an der derzeit etwas unruhigen Lage vor Ort und an meinem Job.

Indes ist die politische Lage in Afghanistan offenbar schon immer etwas prekärer, und auch Newby war vor seiner 1956 keineswegs berufslos. Das Telegramm an seinen Mitreisenden Hugh Carless mit dem Wortlaut „CAN YOU TRAVEL NURISTAN JUNE“ beendete vielmehr eine zehnjährige Karriere in einem Londoner Modesalon, in dem Newby als eine Art Werbefachmann tätig war, und man würde wünschen, mehr von dieser sehr, sehr amüsanten Welt zu hören, wenn nicht die anschließenden Schilderungen eines kurzen Trainings der Kunst des Bergsteigens in Wales (!) und die sodann erfolgte Abreise über Istanbul Richtung Afghanistan nicht noch kurzweiliger wäre.

Natürlich klappt nichts. Schon auf der Hinfahrt wird ein Beduine überfahren. Das Wasser ist verkeimt. Das Essen schlecht. Newby und Carless haben die ganze Zeit Durchfall, und mangels Alternativen liest Newby immer wieder "Der Hund von Baskerville". Es ist zudem wahnsinnig kalt, die Schuhe der Reisenden erweisen sich als ziemlich ungeeignet für die extremen Gegebenheiten vor Ort, und die Bewohner des Hindukusch lieben, schildert Newby, Reisende nicht. Nicht einmal die angeheuerten Führer machen einen auch nur halbwegs vertrauenswürdigen Eindruck, und dass die beiden Reisenden heil aus dem Land wieder herausgekommen sind, wirkt eher wie ein Zufall. Dabei gibt es durchaus Abstufungen des Unangenehmen zwischen den Angehörigen verschiedener Stämme vor Ort, die teilweise schon immer sehr, teilweise aber erst seit einer Generation ein bisschen muslimisch sind, aber zumindest latent gewalttätig wirken fast alle.

Einige Exkurse über die Geschichte des Landes, die verschiedenen Stämme und Sprachen sind, wenn auch weniger raumgreifend, der Vorgehensweise des ohnehin stets sehr präsenten Robert Byron ähnlich, nicht ungeschickt eingeflochten. Kaum jemals doziert Newby, stets kehrt er nach kurzen Schleifen zurück zur Reisegruppe, die eine beachtliche Strecke durchquert, wie die eingeheftete Karte ausweist. Menschen, die sich mehr als ich für die Natur in exotischen Ländern interessieren, kommen vermutlich auch auf ihre Kosten, und dass die Besteigung des Mir Samir einige hundert Meter unter dem Gipfel scheitert, bildet eine reizende Arabeske der Sinnlosigkeit, die Newby indes kaum zu erstaunen und auch nicht besonders zu enttäuschen scheint.

Zu guter Letzt: Die deutsche Übersetzung von Matthias Fienbork ist gelungen. Der Umschlag der "Anderen Bibliothek" dagegen außerordentlich lieblos und scheußlich.

Dienstag, 16. Dezember 2008

Die Verwandlung der Welt

Daniel Kehlmann, Beerholms Vorstellung (1997)

Wie belebt doch die Welt einmal war, als Wind und Bäume sprechen konnten, und im Geäst die Elfen laubbeschattet Lieder sangen. Wie reich war die Welt an Möglichkeiten, als man nicht wusste, ob die Wölfe vorm Dorf nicht des Morgens zuckend ihr Fell abwarfen und knurrend, doch menschlich, zurückschlichen in die Kate nebenan. Wie mächtig waren Worte, waren Gegenstände, als ein paar Silben ausreichten, ein Mädchen in Schlaf zu versetzen, und die Berührung mit einem Stab einen Kürbis wachsen ließ, bis er, versehen mit vier Rädern, eine aus der Asche entstiegene Prinzessin zum Ball fuhr und zurück.

Zwar hatte niemand, den man kannte, dergleichen schon erlebt. Gehört aber hatte jeder davon, dass im nächsten Dorf – in einem fernen Land – in jüngst vergangenen Tagen – derlei vorgekommen war, und fest glaubten die Menschen an die Möglichkeit, dass alles anders sein könnte, als es ist, und allen Dingen die Möglichkeit innewohnt, sich jederzeit zu verändern.

Die Welt aber wurde kleiner. Seefahrer fuhren los und kehrten zurück und hatten keine Menschen mit Hundeköpfen an Bord. Woanders, erzählten sie, wuchsen zwar andere Früchte auf den Bäumen, aber gebratene Tauben flogen überall nur wenigen in den Mund, und das Wasser floss auf der ganzen Welt nach unten. Forscher schlossen sich in Universitäten ein, und als sie herauskamen, verkündeten sie nüchterne Gesetze über den Lauf der Welt, die überall und jederzeit Geltung haben sollten. Wölfe blieben danach auch am Morgen grau und struppig. Die Bäche sprachen nicht, sondern flossen von der Quelle zum Meer, und aus der Asche stiegen weder Prinzessinnen noch bunte, unsterbliche Vögel.

Mit jedem Fetzen Wissen mehr um den Lauf der Welt vergrößerte sich die menschliche Herrschaft über die Natur. Frei wurde der Mensch dabei von vielen Ängsten, doch mit jeder Erweiterung seiner Freiheit verkleinerte sich die Welt, wurde eckig und grau, und die Ausnahmslosigkeit der Naturgesetze legte sich schwer auf die Gemüter.

Etwas melancholisch wurden die Menschen, ein wenig wehmütig ob der verlorenen Weite. So eng und drückend von allen Seiten wurde die Wirklichkeit dem 19. Jahrhundert, dass die Menschen sie nicht aushielten und trotzig an den Möglichkeiten festhielten, die die Wissenschaften ausgeschlossen hatten. Indes kann der Mensch eine ganze Menge Tätigkeiten ausführen, wenn er nur will. Kochen etwa oder Arbeiten oder zum Mond fliegen. An etwas glauben, von dem er weiß, dass es nicht stimmt, gehört aber nicht dazu, denn es kommt den meisten Menschen dumm vor, Unwahrheiten hinterherzulaufen, es sei denn, es gäbe einen guten Grund. Gute Gründe für die Pflege wohltuender Lügen wiederum gibt es nicht viele, und die Moderne kam nur auf eine: Die Kunst, und so wurde man denn romantisch und sammelte Märchen, schrieb blauscheckige Gedichte und malte die Welt eckig oder rund, bis sie sich selber vor lauter Verwandlung kaum mehr erkannte.

Indes ist stets etwas Schwankendes, Fadenscheiniges um diese Strategien der Verwandlung. Die Welt wird, so mutmaßen manche, eben doch nicht anders, nur weil man ihr mit Ölfarbe Zacken malt. Das Prekäre der Verwandlung aber ist der eigentliche Schmerz, denn diese oft haarfeine Spalte zwischen Wunsch und Erfüllung bildet den Graben zwischen dem alten Reich der Fülle und der Realität von Glaube und Kunst. Von diesem Schmerz, dem Scheitern der Verwandlung der Welt, handelt dieser Erstling des inzwischen zu recht sehr bekannten Autors Daniel Kehlmann.

Die Kunst, anhand derer Kehlmann dieses Scheitern vorführt, ist zunächst die der Illusionisten, der Zauberkünstler, die Hasen aus Zylindern holen und Jungfrauen zersägen. In ihrer Vortäuschung, die Last der Naturgesetze abschütteln zu können, ist diese Kunst sicherlich die, die den Schmerz um die bodenlose Weite der Welt am unverstelltesten abbildet, indem sie den Verlust schlicht negiert. Es mag sein, dass diese Direktheit dafür verantwortlich ist, dass der Zauberei in den Augen der Öffentlichkeit etwas Zwielichtiges anhaftet, etwas von Las Vegas und Vorstadtcabaret, und die Hochkultur mit ihren Förderfonds und Staatsministern einen Bogen um diese Künste schlägt. Zu Demonstrationszwecken hinsichtlich des Schmerzes an der entzauberten Welt ist die Zauberei aber ganz fabelhaft geeignet, und so lässt Kehlmann seinen Held – Herrn Arthur Beerholm – sich so sehr sehnen nach der wirklichen Gabe der Zauberei statt der meisterlich und erfolgreich beherrschten Täuschung, dass der Wunsch die Wahrnehmung formt, bis Beerholm bisweilen glaubt, die Dinge würden ihm gehorchen.

Am Ende aber siegt der Schmerz. Dass sich die Illusion stets an der Kaimauer der Naturgesetze bricht, treibt Beerholm fort, und aus dem gefeierten Künstler wird ein Gescheiterter, der am Ende auf einer Aussichtsplattform steht, bereit zu springen. Auf dieser Ebene des Buches, zerschellt der Wunsch nach der Fülle der Welt an der Wirklichkeit, an der stirbt, wer mit ihr nicht leben kann.

Unterhalb, nein: mit dieser Geschichte erzählt Kehlmann eine zweite. In dieser geht es gleichfalls um Beerholm. Es geht um denselben Jungen, den die Wirklichkeit schmerzt, seit – ein wenig plakativ – seine Adoptivmutter vom Blitz erschlagen wird. In einer Nacht kurz nach der Matura aber ändert sich der Verlauf. Denn statt Theologie zu studieren, schläft Beerholm, träumt, malt sich die ganze Geschichte von Studium, Zauberei, äußerem Erfolg und innerer Niederlage aus, und alles, was dann passiert, die ganze Geschichte, spielt nirgendwo als im Kopf des Helden, Schwaden, Tagesreste, und am Ende, beim Sturz, wird Beerholm vielleicht nicht sterben, wie die Gesetze es wollen. Er wird nicht fliegen, wie er es wünscht. Vielleicht wird er einfach erwachen, und der Kampf gegen die unerträgliche, nüchterne Enge der Wirklichkeit wird nicht verloren, sondern schlicht nicht einmal ausgetragen, denn Träume zählen nicht auf der Waage der Welt.

Wie eine Strähne von Gold in schwarzen Haaren taucht dieses Motiv von Traum und Unwirklichkeit immer wieder in der Geschichte auf, wird nach oben gespült als Anspielung, als offene Ansage eines Protagonisten, und der Charme dieser surrealen Bilder täuscht über den Ernst hinweg, in dem die Macht und die Kraft der Imagination – gleichermaßen Kunst wie Glaube . die Wirklichkeit scheinbar überwindet. Doch ist der Traum von vornherein mit dem Makel des Unwirklichen behaftet, und seit Freud zudem gebrandmarkt als Geburt allein der eigenen Seele und nicht einer Wahrheit, die auch außerhalb des Individuums gilt. Auf dieser Ebene also unterliegt der Wunsch nach der Rückkehr zur alten Einheit der Welt, zur unbegrenzten Vielzahl der Möglichkeiten, indem ihre Überwindung internalisiert wird, eingeschlossen in einen Kopf, der nach wie vor der Begrenzung der Moderne unterliegt.

Eine weitere Ebene des Scheiterns schreibt der Autor nicht selbst. Denn der Schriftsteller kann zwar einen ganz normalen Mann zaubern lassen. Seine Geschöpfe können mit den Winden treiben, oder gestorben wiederkehren, doch Kunst, Lüge, behauptet also, doch nicht wahr, bleibt alles, was der Autor formt aus nichts als 26 Buchstaben. Pixel im Nichts. An der Kunstfertigkeit des Autors hängt es, ob der Leser ihm glaubt, zumindest für ein, zwei Nächte, einige Stunden oder die paar großen Minuten, ob derer man einen Roman nicht vergisst.

Hier aber liegt dieses Buches Schwäche: Man bewundert. Man liest mit großem, selten erlahmenden Interesse, man fühlt sich mehr als nur gut unterhalten, doch ein wenig hüftsteif, ein wenig geruchlos, zu viel Papier und zu wenig Schweiß, Blut und Tränen haftet an Arthur Beerholm und seinen Gefährten. Schwer zu sagen ist es, was fehlt, doch Anteilnahme, Mitgefühl, all das, was man nur den täuschend echten Imitaten der wirklichen Welt spendet, bleiben aus angesichts dieses Treibens amüsanter, interessanter Marionetten, und so klafft auch hier die feine Naht, der stete Schmerz der Wunde zwischen Wunsch und Welt.

Dienstag, 11. November 2008

Von Kindern und Mördern

Saša Stanišić, Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006)

Kinder, das ist bekannt, haben äußerst unangenehme Seiten. Sie stinken. Sie sind laut. Sie sagen die Wahrheit, wenn man sie nicht im Geringsten brauchen kann, sie lügen schrecklich schlecht und sind, unter anderem aus diesem Grund, sehr, sehr miese Erzähler. Ihre Geschichten haben weder Anfang noch Ende, es fehlt ihnen zumeist vollkommen an innerer Folgerichtigkeit, und die kindliche Froschperspektive - bedingt durch den fehlenden Erfahrungshorizont - führt zu vielfachen Redundanzen und ärgerlichen Längen bei der Wiedergabe von Selbstverständlichkeiten. Die Wahl eines kindlichen Erzählers für ein literarisches Werk zieht damit zwangsläufige Probleme nach sich: Eine nur halbwegs realistische Wiedergabe des kindlichen Erzählens wäre vor Langeweile nicht auszuhalten. Eine nur vorsichtig infantiler Diktion angenäherte Sprache wirkt dagegen wegen der Überlagerung erwachsener und kindlicher Sprach- und Erlebnisebenen nicht selten altklug und ein wenig künstlich dazu.

Natürlich - andernfalls gäbe es solche Bücher ja nicht - hat die Wahl eines kindlichen Erzählers auch Vorteile. Die Fiktion, der Erzähler erlebe alles zum ersten Mal, erlaubt es, das Selbstverständliche mit dem Gestus des Staunens zu erzählen, der dem Leser im besten Fall das Mitstaunen erlaubt und zudem viele Bilder ermöglicht, die einem Erwachsenen schlechthin nicht abgenommen werden, ungefähr so, wie es die Öffentlichkeit einem Dreißigjährigen eher als einem Dreijährigen verübelt, sich bei Kaisers auf den Boden zu werfen, wenn er kein Eis bekommt. Zudem erwartet der erwachsene Leser von einem erzählenden Kind naturgemäß nicht, alles Erlebte und Gesehene auch zu verstehen, zu erklären gar, oder möglicherweise in unschöne Geschehnisse hilfreich einzugreifen. Dies wiederum prädestiniert die kindliche Perspektive für das Erzählen über den Krieg aus der Position einer natürlichen Unschuld, die Gewalt erleidet, sie beschreibt, aber weder ihre Entstehung erklären muss, noch Position bezieht. Gerade eher komplexe Auseinandersetzungen wie der Krieg im früheren Jugoslawien eignen sich damit als Gegenstand des Erzählens aus kindlicher Perspektive. An ein Kind – wie Saša Stanišić alter ego Aleksandar – trägt man die Fragen nicht heran, die ansonsten der Leser dem Buch stellen würde. Wie konnte das passieren, etwa. Oder: Was ist genau geschehen? Und nicht zuletzt: Wer hat schuld?

Tatsächlich beantwortet das Buch keine dieser Fragen, ohne dass man die Antwort vermisst oder auch nur erwartet. Die Geschichte dieses mir bis heute unverständlichen Krieges wird vielmehr erzählt als eine Vertreibung aus dem Paradies, das etwas zu genrehaft, ein bisschen zu sehr märchen-, klischeebalkanhaft erzählt wird, und hier stößt man sich hart an der etwas zu putzigen Sicht des ungefähr zwölf- oder dreizehnjährigen Helden. Anfang der Neunziger Jahre, am buchstäblichen Vorabend des Schlachtens hebt die Erzählung an, und klingt doch streckenweise sehr nach den Erinnerungen sehr, sehr alter Leute, ein bißchen zu niedlich und zu pläsierlich, ein Jugoslawien wie aus der handgewebten Dekoration der Balkanrestaurants Dubrovnik, wie sie vor Jahren in deutschen Kleinstädten bunt geschmückt Ćevapčići verkauften, und auch vom Tonfall ähnelt manche Passage fast den immer etwas zu simplen Anekdoten Roda Rodas von vor dem ersten Weltkrieg. Indes: Schlecht sind die Geschichten nicht. Man hat sich schon einmal besser amüsiert, zweifellos – aber amüsiert habe ich mich schon und streckenweise sogar prächtig.

Gut gemacht – und hier bewährt sich der Blick eines kindlichen Helden – ist der Einbruch des Krieges. Wie mitten in ein folkloristisches, balkanbuntes Fest der Krieg tritt, betrunken, bewaffnet und platzend vor Unreife, und die scheinbar noch geglätteten Wogen dann doch innerhalb weniger Seiten des Buches die Idylle auffressen, verleiht dem Bösen, dem Grauen einen Körper, der es erst fassbar macht, wie der Krieg das Paradies erst überschattet und dann zerstört. Die Szenen aus der besetzten Stadt sind grell, gut gemacht, und es liegt nicht am Erzähler, dass man meint, so etwas bereits gelesen zu haben. Das 20. Jahrhundert hat an seinen Kindern keinen Kelch vorübergehen lassen.

Nach der Flucht aus Bosnien indes wird das Buch etwas – nun: lang. Dass der zunächst im Ruhrgebiet langsam heranwachsende Protagonist die Vergangenheit idealisiert, glaubt man angesichts der durchaus trist illustrierten Flüchtlingsgegenwart unbesehen. Lesen möchte man die Früchte dieser Idealisierung durch den nun schon älteren Aleksandar allerdings nicht, oder zumindest nicht in dieser Breite. Auch öffnet sich in diesen Passagen, in denen der Held in Deutschland zur Schule geht, eine gewisse Schere zwischen dem Kinderblick und dem wachsenden Alter. Die Jahre werden so schnell erzählt, dass man nicht ganz mitkommt mit dem wachsenden Erzähler, und die schon in den anfänglichen Anekdoten ein wenig nervenzerrende Naseweisheit des Kindes verträgt die Sprünge durch manche Rückblenden nicht immer. Auch die Erzählung mittels Briefen an eine sehr, sehr schattenhafte Freundin, bosnischer Flüchtling im früheren Wohnhaus in Višegrad, zieht eine Distanz des Lesers zum Geschehen nach sich, die möglicherweise absichtsvoll angelegt, gleichwohl dem Vergnügen nicht förderlich ist.

Rund immerhin endet das Buch nach rund 300 Seiten. Vielleicht etwas zu rund, wenn das Grab des Großvaters, des ziemlich demonstrativ personifizierten Jugoslawien, des Geschichtenerzählers und Parteifunktionärs, besucht wird, der auf den ersten Seiten stirbt, aber wenige Seiten später legt man das Buch (nur ein paar Stunden nach Beginn der Lektüre, der Roman liest sich leicht) mit einem gewissen Bedauern zur Seite, flankiert vom Erstaunen, dass der erhebliche Charme dieses Romans seine Mängel am Ende doch und nicht ganz wenig überwiegt.

Aber von Kindern will ich die nächste Zeit weder hören noch lesen.

Montag, 3. November 2008

Ich habe Uwe Tellkamps Eisvogel abgebrochen

... und werde den Turm gar nicht erst kaufen.

Hab’ ich mich gelangweilt. Gott, hab’ ich mich gelangweilt mit diesem Buch in Kreta am Strand. Und dann habe ich – das passiert eher selten – einfach aufgehört und das Buch weggelegt, obwohl ich nach der ersten Urlaubswoche nichts Ordentliches mehr zu lesen hatte, und das liegt, ich schwöre, den begeisterten auf dem Buchrücken abgedruckten Kritiken zum Trotz an wirklichen und ernsthaften Mängeln des Eisvogels, als etwa da wären:

Es mag sein, dass Tellkamp (wie der Klappentext es nahe legt) eine abstrakt interessante Geschichte erzählt. Tatsächlich fängt es gar nicht schlecht an: Einer wird getötet, der Tötende kommt ins Krankenhaus und erzählt – so der etwas konventionelle Einstieg – seinem Verteidiger, wie es zu Tötung und Spital gekommen ist. Da menschliche Grenzsituationen wie die der Tötung andere Leute meistens interessieren, hilft einem dieser Cliffhanger über die ersten zwanzig oder dreißig Seiten hinweg, dann aber sank mein Interesse, börsenkursgleich in diesen traurigen Tagen, deutlich ab, kroch gelegentlich noch um matte drei, vier Prozente in die Höhe, um dann endgültig auf der Nullinie zu verenden.

Die Ursache dieses Sinkflugs ist simpel: Alle dargestellten Figuren haben mich nicht für fünf Pfennig interessiert. Der Schwager beim Fernsehen (um bei den Nebenfiguren anzufangen) ist ein quotensüchtiger und vulgärer Depp. Der bankmanagende Vater ist eine Karikatur der bundesdeutschen Babyboomer, und die karrierebesessene Assistentin und Kurzzeitgeliebte des Krankenhauspatienten scheint direkt der „Jungen Karriere“ entsprungen zu sein, oder besser: der Vorstellung, die sehr, sehr weltfremde Leute von den Junge-Karriere-Lesern so haben. Soweit sich das beim kursorischen Durchblättern feststellen lässt, wird es beim künftigen Mordopfer, einer Art rechtsintellektuellem Sektengründer, und seiner Schwester keinesfalls besser. Das Verführerische, das beiden zugeschrieben wird, wird nur behauptet, aber nicht illustriert. Bei der Anhängerschaft des künftigen Toten wird es dann ganz grauenhaft.

Etwas leicht macht es sich Tellkamp mit diesem Personal, denke ich mir, denn so sicher es Menschen geben wird, die ungefähr so sind oder bei ein bisschen bösem Willen zumindest so wahrgenommen werden können, so wenig überzeugend sind diese Fratzen als Personal eines Romans: Für ein repräsentatives Portrait der bundesdeutschen Funktionseliten und ihrer dysfunktionalen Abkömmlinge sind die Nebenfiguren (wie das Setting, auch der Tonfall der handelnden Personen generell) zu schlecht getroffen, und als Protagonisten einer guten Geschichte wünscht man sich zum einen etwas weniger holzschnittartige Charaktere, und zum anderen habe ich den großartigen Plot nicht gefunden. Möglicherweise hätte er sich beim Weiterlesen noch aufgeblättert, aber wozu ein Autor den Leser sich eine halbe Stunde langweilen lässt – ich habe keine Ahnung.

Nun schadet Nebenfiguren – gerade wenn sie der Leser nur durch die sicherlich befangenen Augen der Hauptperson sieht – eine gewisse Chargenhaftigkeit oftmals nur wenig. Allerdings möchte ich mich zumindest für diejenige Figur interessieren, die im Vordergrund der Bühne herumstolziert, zumal, wenn wie hier, die Hauptperson ihre Geschichte erzählt. Nicht, dass ich mich in Herrn Wiggo Ritter geradezu verlieben möchte, um an seinem Tun und Treiben Anteil zu nehmen, aber langweilen soll jemand, dem man ein paar Stunden lang zuhören möchte, nun auch nicht. Daran allerdings hapert es ganz gewaltig. Herr Wiggo Ritter macht es einem nicht leicht, nein: er macht es mir annähernd unmöglich. Dies aber liegt an der Auswahl eines Typs Mensch als Helden, der sich – zumindest was mich betrifft – als Träger von Interesse, vielleicht gar Sympathie, schlecht eignet.

Es mag ja vielleicht verständlich sein, dass arbeitslose Philosophen wie der Herr Wiggo Ritter dazu neigen, logischer Intelligenz und einer gewissen Formalbildung einen möglicherweise etwas übertrieben hohen Wert zuzuschreiben, denn was dem einen sein Jaguar ist dem anderen sein Heidegger, jedoch ist die Pose, die subjektiv unterbewertete Intelligenz oft annimmt, nicht gerade angenehm, bestenfalls rührend lächerlich, und strengt mich meistens, so auch hier, nicht wenig an. Ich gehe Menschen, die sich ihrer Umgebung für überlegen und von dieser für ungerechterweise unterschätzt halten, gern aus dem Weg, denn es gibt wenig Gründe, Zeit mit verbitterten, selbstgerechten, arroganten Leuten zu verbringen, und es gibt wenig denkbare Motive, hiervon abzuweichen, wenn sie einem als Personal eines Romans begegnen. Ein denkbarer Grund immerhin wäre Humor, und sicherlich hätte ich weiter gelesen, gäbe es etwas zu Lachen. Daniel Kehlmanns ‚Kaminski und ich’ funktioniert ja etwa mit einem durchaus anders, aber nicht sympathischer gestrickten Helden, allerdings habe ich den Verdacht: Uwe Tellkamp findet sein Geschöpf gar nicht so arg daneben und beschreibt einen Mann, der dem Leser angenehm sein soll. Dies allerdings darf als gründlich misslungen gelten, und zudem leidet die Nachvollziehbarkeit der Handlung ernsthaft unter der nahezu läppischen Beschreibung der vom Mordopfer Mauritz vertretenen elitistischen, sehr der Gedankenwelt der konservativen Revolution verhafteten Ideen in einer fast unerträglich kitschigen Version.

Es war nicht auszuhalten. Ich wurde immer müder. Die Sonne schien, der geschätzte Gefährte schmatzte vergnügt über der Lektüre von Adam Soboczynskis amüsantem Buch über die Kunst der Verstellung, und erstaunt stellte ich fest, nicht mehr wissen zu wollen, wie es zu dem Tötungsakt der ersten Seite gekommen ist. Weder wollte ich wissen, warum Mauritz stirbt, noch wie es dem tötende Wiggo Ritter vor und nach diesem Vorfall erging, und da habe ich die Lektüre beendet.

Berliner, die das Buch haben wollen, können es haben. Und nein, sagen sie mir nicht, wie es ausgeht. Es ist mir egal.

Donnerstag, 16. Oktober 2008

Liegen lesen

Leser, so las ich letztens beim jüngst verstorbenen Nicolaus Sombart, zerfallen ja in zwei Kategorien, von denen die erste aufrecht im Sitzen, die zweite aber im Liegen liest, und das letztgenannte, von orientalischer Schlaff- und Sinnlichkeit geprägte Lesen auf Bett oder Divan sei eine grundlegend andere Sache als das konzentrierte Studieren am Tisch oder, besser noch an einem Stehpult.

Tatsächlich, so stelle ich mir vor, unterscheidet sich nicht nur die emotionale und kognitive Grundhaltung des Lesens je nach Körperposition. Auch die gelesenen Bücher müssten sich unterscheiden, denn wer schon liest Mommsen im Bett? Oder Proust am Schreibtisch? Wer stellt sich an ein Pult zwecks Lektüre von Henry Miller?

Wechseln, nehme ich an, werden die meisten Leute daher je nach Buch den Ort ihrer Lektüre. Ich aber, meine Damen und Herren, ich bin den Stehpult- und Schreibtischbüchern von vornherein abhold. Faul bin ich und ein wenig vergnügungssüchtig dazu, und kaufe daher ausschließlich solche Werke, die in der Horizontalen lesbar sind, und habe gelernt, das für weiche, warme Lagerstätten Unpassende zu vermeiden, ungefähr so, wie man inzwischen weiß, welche Kekse man im Bett essen kann und welche nicht.

Schlüsselworte in Klappentexten wie etwa „radikal“ oder „mutig“, welche andeuten, dass das betroffene Werk Experimenten sprachlicher Natur gewidmet ist, vermeide ich. Durchweg kleingeschriebene Werke lasse ich wegen der Erschwerung des Lesevorgangs liegen, und überhaupt generell alle Bücher, die den Leser erkennbar anzustrengen bestimmt sind, schaffen es nicht bis an die Kasse. Gegenwartslyrik mag ich auch nicht.

Weil ich mich für Politik und Gesellschaft gleichermaßen gar nicht interessiere, kaufe ich keine Bücher, die entweder direkt diese Themen betreffen oder aber im Gewande des Romans gesellschaftliche Probleme thematisieren, im schlimmsten Falle getragen von der Hoffnung, der empörte Leser werde hierzu eine Position entwickeln und den Misstand abstellen. „Groß angelegte Panoramen der Gegenwart“ oder so ähnlich, erwerbe ich deswegen nie, und zudem – das nur nebenbei – mag ich keine Bücher über Freaks, außer sie sind exorbitant unterhaltsam. Eine weitere Abneigung gilt Büchern, in denen Hitler vorkommt.

Weil man im Bett schneller ermüdet als am Schreibtisch, scheiden auch die meisten Bücher aus, auf denen seitenweise nichts passiert. Langweilige Bücher lese ich auch dann nicht weiter, wenn man mir von berufener Seite ihre Kunstfertigkeit preist.

Am Ende bleibt nicht viel über bei einem Rundgang bei Dussmann, und wenn man tage- ja wochenlang liegt, ab Montag nämlich auf Kreta, dann steht man da, die mitzunehmenden, bereits vorhandenen Bücher sind nicht allzu zahlreich, und dankbar ist man für Benennungen, welche neu oder alt, Roman oder Sachbuch, sein mögen, aber nur eins sein müssen:

Im Liegen lesbar.

Freitag, 6. Juni 2008

Am Vorabend der Schlacht

Patrick Leigh Fermor, Die Zeit der Gaben

Es ist der Winter 1933, in den aufgebrochen wird, doch der Reisende, der dreißig Jahre später seine Erinnerungen aufschreiben wird, wird von einem anderen, einem älteren Deutschland erzählen, als all die anderen, die von den Jahren berichten werden, die letztlich auch dem Deutschland Patrick Leigh Fermors ein Ende in Schutt und Asche, Scham und Schande bereiten werden. Mag es am Alter des Reisenden liegen, der achtzehnjährig Englands grüne Hügeln verlässt, um bis Konstantinopel zu wandern, mag es eine ausnehmende Naivität in politicis sein – das hässliche Deutschland jener Jahre scheint nur in Fetzen auf, in grellen, brutalen Flecken auf einem Bild, das idyllisch ist, rotwangig und gutmütig, und in dem die Äpfel schwer und golden des Reisenden Weg zu säumen scheinen, auch wenn die Wanderung durch ein winterliches Deutschland führt.

Kurs vor Weihnachten überquert Patrick Leigh Fermor den Ärmelkanal. Von den ehrwürdigsten Privatschulen der britischen Inseln geflogen, die Offizierslaufbahn in Sandhurst gar nicht erst ernsthaft begonnen, beschließt der Sohn eines britischen Kolonialbeamten, Europa zu bereisen. Zu Fuß sollen Mitteleuropas alte Wege beschritten werden, und Freundlichkeit, Hilfbereitschaft und eine versunkene Gastfreundlichkeit von einnehmender Arglosigkeit geleiten Patrick Leigh Fermor den Rhein abwärts, durch die Niederlande erst, durchs Rheinland, Baden, Bayern, über Österreich und Tschechien bis Ungarn und weiter, weiter bis an die Hohe Pforte und zurück. Vier Jahre wird die Reise dauern, deren erste beide Teile bereits als Buch erschienen sind. Ein dritter soll folgen.

Es ist ein märchenhaftes Deutschland, das der Brite durchquert. Die alten Schlösser öffnen sich dem Wanderer, der durch Empfehlungen angekündigt ein warmes Willkommen bei einer schon verblassenden Aristokratie erfährt, die weiß, dass ihre große Zeit vorbei ist, und deren Schlösser beginnen, zu verfallen. Öffnen sich keine Türen, so übernachtet er schon einmal bei der Heilarmee, in der einen oder anderen Scheune, und in Gasthöfen, hinter deren Butzenscheiben Bier und Wein, kümmelbestreutes Brot, frische Butter und Schinken auf ihn warten.

Freundlichkeit erfährt der Reisende von Unbekannten, von Arbeitern wie Grafen, vom behäbigen, selbstbewussten Bürgertum, seinen höheren Töchtern und alten Herren, wie von Bauern und Vagabunden. Schwer, atmend wie ein Tier im Winter schläft die alte Erde an Rhein und Donau und die Aufgeregtheit dieses Jahres scheint sehr fern, selbst dann, wenn der junge Engländer ins Wien der letzten, verzuckenden Zwischenkriegszeit gerät, wo ein rauschender Fasching gleichwohl präsenter erscheint als die Schreie der sterbenden Marxisten im Karl-Marx-Hof.

Nicht die Unruhe der Dreißiger, sondern die Unruhe einer länger versunkenen Zeit, der Landsknechtjahre, der Holbein, Cranach und Dürer, das Deutschland des Grünwald-Altars, der Schlösser und Burgen steht vor dem Wanderer noch einmal auf. Die leeren Felder scheinen belebt von längst vergangenen Schlachten mit Piken und Hellebarden, berühmten Schwertern und ihren noch berühmteren Besitzern, und die Herren des Dreißigjährigen Kriegs sind präsenter als die, die dem kommenden Krieg gebieten. Unter den verschneiten Haseln, den Ulmen und Buchen, der Einsamkeit eines Friedhofs am Wegesrand, meint man die blonden Feen vom Rhein lachen zu sehen, und die grobe Fröhlichkeit der deutschen Renaissance sitzt stets mit am Tisch. Fast, so meint man, verbergen sich hinter den Schwänen verwunschene Prinzen, und die Weiden am Fluss beschatten das Rohr, aus dem Eichendorffs Taugenichts seine Flöte schnitzt.

Ein welt- und zeitabgewandtes Deutschland zeichnet Leigh Fermor, bieder, entschieden vormodern und verträumt. Es ist noch ganz das Deutschland der Madame de Staël, und dieses „noch“, die Risse und Brüche dieser versinkenden Welt, das Sinken und Neigen selber, werden farbig unter den feinen, impressionistischen Federstrichen des in der britischen Welt bekannten Reiseschriftstellers, der die Farben des winterlich verwesenden Himmels, der saftigen, grausigen Bilder des 15. und 16. Jahrhunderts, der Kathedralen und der Kirchen im rührendsten Bauernbarock, den Geschmack von Luft und Wasser, die verwitterte Pracht vergehender Städte, heiterer, eulenspiegelhafter Episoden ebenso zeichnet wie das unterirdische Grollen, das den Fahrenden durch alle Länder begleitet.

Es mag die Wehmut des Untergangs sein, die dieses - leicht zu lesende, einnehmende - Buch verzaubert. Das letzte Atmen am Vorabend der Schlacht, aus dessen Stürmen ein nüchternes, entzaubertes Land hervorgehen wird, voll der Stadtsparkassen und Oberstufenzentren, in dem breite Schneisen aus Beton den spitzweghaften Charme der Städte begraben. Es werden unserer Sehnsucht Glocken sein, die klingen nach einem Deutschland voll der Märchen und Legenden, nach den Bischöfen in ihren Burgen und der Biederkeit der Bürger in den kleinen Landstädten hinter alten Mauern. Die Zeit der Rosenstöcke, der Lieder (es wird ständig gesungen auf dieser Reise), der goldenen Trauben der Romantik neigt sich lächelnd vor dem Leser, und dass wir es besser zu wissen vermeinen, dass das harte Leben der Bauern, die Ungerechtigkeit und Enge der Verhältnisse, die Borniertheit der Bürger und der Hochmut der Aristokratie in anderen Büchern glaubhaft versichert werden, ändert nichts an dem Heimweh, das dieses Buch hervorruft, an dem Neid sogar auf diese von Jugend und einem halben Jahrhundert besonnte Rückschau auf ein vergangenes Land.

Patrick Leigh Fermor
Die Zeit der Gaben
1975

Samstag, 16. Februar 2008

Madame entspannt sich

Auf dem Rücken liegend geht es etwas besser. Auf der Seite dagegen pocht und sticht es, und ich fahre mit der flachen Hand ein paarmal über meinen Brustkorb, um die Regelmäßigkeit der Herztöne zu prüfen. Es sieht nicht gut aus. Besorgt – Tiere haben ein feines Gespür – sitzt auf dem Sessel neben meinem Bett der Kater. Er wird es schwer haben, wenn ich nicht mal mehr bin.

Gegen eine ernsthafte Erkrankung spricht immerhin, dass diese Beschwerden zwar regelmäßig, aber nur, also ausschließlich und ansonsten nie, im Urlaub auftreten, und zudem nicht in jedem Urlaub, sondern nur während längerer Phasen freier Zeit daheim. Verlasse ich die Wohnung, sind die Schmerzen wie weggeblasen. Auch führen Zigaretten nur bei Konsum allein zu Hause zu Beklemmungen im Brustkorb und einem brennenden Gefühl im Mund.

In der Badewanne lässt der Schmerz nach. Leider fällt mir, da bin ich schon ganz schrumpelig, Leo Perutz‘ dritte Kugel ins Wasser, weicht auf, und ist bei Gefahr des Zerreißens für heute nicht mehr lesbar. – Ob man Bücher föhnen sollte?, frage ich mich, ein bißchen verärgert über die Leseverzögerung, und greife dann doch, eingehüllt in J.‘s neuen Bademantel, zum nächsten Buch im Stapel.

Bei Thomas Glavinic letztem Roman, mir als amüsant empfohlen, geht es gleich auf Seite 1 um die Furcht vor Erkrankung. Hodenkrebs lässt mich kalt!, befehle ich mir, und verbiete mir jeden Gedanken an diejenigen Krankheiten, die Frauen statt dessen befallen. Sterben eigentlich mehr Frauen an Brust- als Männer an Hodenkrebs? Wahrscheinlich ja, sage ich mir, und lege das Buch mit leisem Bedauern zur Seite. Nicht allein, nicht im Urlaub, sage ich mir, und versuche, eine halbwegs bequeme Stellung einzunehmen. Der Kater liegt immer noch neben dem Bett.

Ein bißchen blass bin ich auch, stelle ich fest und drehe den Spiegel vorsichtshalber um. Überdies bekomme ich auf dem rechten Augenlid andere Falten als auf der linken Seite. In Ansehung meines nahen Todes ist aber auch das egal, beschließe ich und vereinbare telefonisch einen Termin im Hedwig-Krankenhaus. Ja, bitte vollständiger Check-Up.

Zwei Stunden später sage ich wieder ab. Wozu das alles. Die Beine eng an den Oberkörper gezogen liege ich auf dem Sofa und lese Vizinczey. Wie ich lernte die Frauen zu lieben. Neben mir schläft immer noch Kater Willy und tritt mir ab und zu träumend in den Bauch.

Vizinczeys reife Frauen sind wahrscheinlich jünger als ich, fällt mir ein. Die Ansichten über das weibliche Alter haben sich bekanntlich etwas verschoben im Laufe der Jahre. Wahrscheinlich ist Strauss' Marschallin Werdenberg jünger, mutmaße ich besorgt um mein künftiges Liebesleben und drehe den Spiegel wieder um. Nur eine kurze Kontrolle. Nun schmerzt es wieder. Beim plötzlichen Aufspringen, als das Telefon schellt, schmerzt es erst recht.

„Was machst du gerade?“, fragt die J. und schlägt einen Museumsbesuch vor. „Als Exponat?“, verkneife ich mir gerade noch.

„Nichts. Mich entspannen.“, antworte ich statt dessen.
Der Kater grinst.



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