Sonntag, 13. März 2005

Aus dem bürgerlichen Familienleben

Mein Onkel E. war nicht ganz sechzig, da ereilte ihn vor knapp zwei Jahren ein Herzinfarkt und warf den bis dato exemplarisch kerngesunden Mann kurzzeitig komplett aus der Bahn. Die Ärzte schalten Onkel E. aus, folgsam hörte er auf zu rauchen und verringerte die Fettmenge pro täglicher Ernährungseinheit. Onkel E., so sagt sein Arzt, ist heute wieder ein gesunder Mann.

Onkel E. wollte dem Arzt gerne Glauben schenken, allein sein Unterbewusstsein zog da nicht mit. In unregelmäßigen Abständen, gern nachts oder zu gänzlich unpassenden Gelegenheiten, schrak der E. auf, sein Herz raste, der Schweiß brach ihm aus und er dachte panisch und intensiv an den Tod. Naturgemäß sagte ihm dieser Zustand nicht besonders zu.

Körperlich fehlt E. nichts. Herzinfarktpatienten, so der Arzt, neigen häufig zu dieser Art von Angstzuständen, die meistens nach einer Weile wieder verschwinden, wenn die Erinnerung an den Infarkt verblasst.

Eine ganze Weile lief der Onkel E. mit der Hoffnung auf das Verschwinden der Zustände durch die Gegend, allein der Zeitablauf brachte keine Besserung. Wieder und wieder ließ er sich die Saugnäpfe des EKG-Geräts auf die Brust setzen, die Schwestern begannen sich zuzutuscheln, wenn er die Sprechstunde kam, und schließlich hatte E. den elenden Kreislauf von Panik und Untersuchung satt. Er ging zum Psychologen.

Wer auch immer dem E. diesen Seelenheilkundler empfohlen hat, hat an E.´s häuslicher Situation nicht nur gut getan. Tief tauchte der Psychologe in die Seele des E. und förderte dort merkwürdige und fremdartige Vorstellungen zutage, die unter der ruhigen Oberfläche dieses leicht phlegmatischen Verwandten schlummerten. Einige dieser Fundstücke waren mehr von der kuriosen Sorte. Insonderheit eine Sache sollte allerdings den Familienfrieden nachhaltig stören. Es geht um E.´s Frau.

Seit mehr als 25 Jahren pflegt der E. diese Ehe mit einer in meiner Sippe seltenen Konsequenz. Mit meiner Tante zeugte Onkel E. zwei wohlgeratene Söhne. In arkadischer Abgeschiedenheit fernab der Städte bewohnte E. samt Frau seine kleine Privatidylle, und niemals, ich würde meinen Kopf verwetten, dachte der ehemals schwarzlockige Onkel E. an die finsteren Motive, die der Partnerwahl zugrundegelegen haben, schenkt man dem Psychologen Glauben: E., so der Psychologe, leidet an einer Art Walkürenkomplex. Aus einem tiefsitzenden Minderwertigkeitsgefühl gegenüber hochbusigen, blonden und ziemlich reckenhaften Personen heraus habe E. sich meiner Tante bemächtigt. Mit dieser Heirat, so der Psychologe, habe der E. eine Möglichkeit gefunden, sein Unterlegenheitsgefühl durch einen Sieg unter Kontrolle zu bekommen. Oder so ähnlich.

Was sich in den folgenden Wochen im Hause des E. und seiner Frau abgespielt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Der Grad an Zufriedenheit, den E. und die Tante aus dem Eheverhältnis saugten, scheint aber irgendwie schon eher gelitten zu haben, denn anders ist das Gesprächsbedürfnis der Tante mit Außenstehenden nicht zu erklären. Sie sei beinahe verzweifelt, die vorher schafsfriedliche Ehe habe stark gelitten, man streite sich, und ihr Wunsch, mein Onkel möge den Psychologen wechseln, sei vom Onkel sehr, sehr negativ aufgenommen worden. Überdies habe der Onkel diesen Wunsch dem Psychologen weitergetratscht, der nun wirklich ziemlich destruktiv zu werde drohe.

Alles dies berichtete die Tante meiner Mutter.

Nach mehr als zwei Wochen fragte meine Mutter einmal nach. Die Situation, so erfuhr sie, sei weiterhin gespannt. Allerdings hätten wohlmeinende und mit der Psychologenszene wohlvertraute Freunde ihr nunmehr geraten, auf dem Wege einer „Familienaufstellung“ die ehedem verdeckten Konflikte zu bemeistern.

Die Psychologie gehört nicht wirklich zu denjenigen Gebieten, auf denen meine Mutter Kennerschaft behaupten darf, was sie allerdings kaum von intensiver Meinungsäußerung abhalten dürfte. Die Familienaufstellung, so meine Mutter, sei eine finstere und gefährliche, geradezu sektengleiche Sache. Um E. und Frau nicht in die Pranken bedrohlicher Leute fallen zu lassen, riet sie unverzüglich ab und zerschoss auf diese Art und Weise wohl eine starke Hoffnung der Tante, die deswegen nicht sehr begeistert reagierte. Um trotz des Widerstandes der Tante die Familienaufstellung zu verhindern, rief sie also meinen Onkel an, erreichte diesen auf dem Weg zum Psychologen, der von der Idee auch nichts hielt, und löste mit diesem Anruf eine größere Krise aus, die auf der ohnehin unruhigen See einer zutiefst kommunikativen Familie hohe Wellen schlug und intensive telephonische Beratungen nach sich zog, die immer noch andauern.

Immerhin um die Ecke

Eremitische Anfälle

In längst vergangenen Zeiten und weit entfernten Regionen, sagt man, leben Menschen auf teilweise engstem Raum. Mit zehn Personen auf weniger als 40 Quadratmetern führen diese Leute ein beengtes, aber wie man alldieweil hört, häufig fröhliches Dasein, erfreuen sich der Nähe ihrer Großfamilie und sind überhaupt nie allein. Die Wärme ihrer Sippe umgibt sie wie ein schützendes Tuch, sie kochen, essen und spielen Gesellschaftspiele und wenn sie traurig sind, nimmt sie jemand in den Arm.

In der Gegenwart leben vereinzelte Singles in riesengroßen Wohnungen. Sie essen im Stehen, sie schreiten an Sonntagnachmittagen langsam durch den Volkspark Friedrichshain und sehen den Familien mit den spielenden Kindern und den großen Hunden hinterher.

Ich beneide diese Menschen.

„Wo hast du den Tee?“, mein Besuch reißt die Zimmertür auf. „Wollen wir ein bißchen spazierengehen?“, fragt der andere Besuch. „Was hältst du von einer Wohnung in der Bötzowstraße?“, „Kochen wir oder gehen wir was essen?“, dann klingelt das Telephon und T. begehrt Einlass in die häusliche Idylle zwischen Koffern und Reisetaschen, über die man auf dem Weg ins Bad morgens stolpert.

„Stehst du immer so spät auf?“, wird man geweckt. „Soll ich die Wohnung nehmen?“, fragt der eine Besuch und ist beleidigt, wenn man sich der konkreten Einzelheiten dieser einen von ungefähr zwanzig potentiellen Bleiben gerade so gar nicht erinnert. „Wie sieht´s aus mit Theater?“, fragt der eine Besuch, „Warst du schon in der Pollock-Ausstellung?“, will der andere Besuch wissen, und wer sich auf dem Sofa liegend gerade gar nicht unterhalten will, wird besorgt gefragt, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei.

„Wollt ihr nicht irgendwo Kaffee trinken gehen?“, herrsche ich die beiden Herren an. „Du bist sauer, stimmt´s?“, tönt es nach dreißíg Sekunden peinvoller Stille.

Nein. Sage ich. Bin ich nicht. Lasst mich nur alle in Ruhe. Und dann stehe ich auf dem Balkon und schaue sehnsuchtsvoll auf den beleuchteten Fernsehturm. Ach, denke ich. Ich hätte auf Säulenheilige studieren sollen, aber dafür ist es nun zu spät.


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