Donnerstag, 17. März 2005

Madame Modeste in fünfzig Jahren

Heute in fünfzig Jahren liege ich noch im Bett. Ist ja gerade erst zehn. Auf dem Nachttisch dampft eine Kanne mit heißem Tee, auf der Fensterbank liegt meine Katze und schaut auf die Straße.

Der Esstisch ist gedeckt, auch wenn ich nicht mehr so viel essen kann. Ein bißchen Gebäck, ein weiches Ei, die Zeitung im Zeitungshalter, damit der alte Mann an der anderen Seite des Tisches sie nicht durcheinanderbringt, denn da bin ich eigen. Der alte Mann soll mir aus der Zeitung vorlesen und mir die Semmeln schmieren.

Am Vormittag gehe ich vielleicht zum Friseur, nachmittags treffe ich dann Freundinnen, die auch so alt sind, die Hündchen an der Leine, und den dicken Schmuck an Fingern und Ohren, den man jetzt noch nicht tragen kann, und schon ewig nicht mehr aus dem Schließfach geholt hat deswegen. Da liegt er nun, und wartet auf eine alte Frau. Dann ein Stück Schokoladentorte, ein Kännchen Tee und so eine kleine Étagère mit Pralinen und Petit Fours, wie es sie in Berlin gar nicht zum Tee gibt, sondern hier bloß in Potsdam im Café Heider, das bis in fünfzig Jahren bestimmt auch schönes Geschirr hat, und nicht dieses plumpe, dicke Porzellan. Aber vielleicht bin ich ja auch gar nicht in Berlin. Am Abend staube ich die Oper voll mit meinem Pelz, weil es dann ja egal ist, wie dick ich aussehe, und alte Frauen Pelze tragen dürfen.

Irgendwo in der großen Stadt, in der ich lebe, weil ich kleine Städte immer noch nicht mag, ist die Welt bestimmt ganz neu und finster, und ich verstehe sie nicht richtig, wenn ich in der Zeitung davon lese. Weil man im Alter ja konservativer wird, habe ich irgendwann die SZ abbestellt und lese seit Jahren die FAZ, die natürlich überhaupt so ist wie immer. Der alte Mann erklärt mir die Novitäten dann manchmal, aber ich höre schon nicht mehr gut zu, weil mich das nicht so interessiert, und Enkel habe ich ja keine.

Irgendwann liegt dann der alte Mann tot im Bett, ich warte vergebens am Frühstückstisch und schließlich kann ich nicht mehr alleine wohnen. Die Welt wird dann immer matter, glanzloser, und schließlich wird es alles egal sein und dann ist es aus.

„War´s gut?“, werden sie mich danach fragen und ich kneife die Augen wegen der Helligkeit und bin noch ein bißchen betäubt, weil es so lange gedauert hat und wegen der Schmerzen. Mit den Achseln zucken werde ich dann, wenn man da Achseln hat, und was dann kommt, werden sie mir schon sagen, wenn es ansteht.


Benutzer-Status

Du bist nicht angemeldet.

Neuzugänge

nicht schenken
Eine Gießkanne in Hundeform, ehrlich, das ist halt...
[Josef Mühlbacher - 6. Nov., 11:02 Uhr]
Umzug
So ganz zum Schluss noch einmal in der alten Wohnung auf den Dielen sitzen....
[Modeste - 6. Apr., 15:40 Uhr]
wieder einmal
ein fall von größter übereinstimmung zwischen sehen...
[erphschwester - 2. Apr., 14:33 Uhr]
Leute an Nachbartischen...
Leute an Nachbartischen hatten das erste Gericht von...
[Modeste - 1. Apr., 22:44 Uhr]
Allen Gewalten zum Trotz...
Andere Leute wären essen gegangen. Oder hätten im Ofen eine Lammkeule geschmort....
[Modeste - 1. Apr., 22:41 Uhr]
Über diesen Tip freue...
Über diesen Tip freue ich mich sehr. Als Weggezogene...
[montez - 1. Apr., 16:42 Uhr]
Osmans Töchter
Die Berliner Türken gehören zu Westberlin wie das Strandbad Wannsee oder Harald...
[Modeste - 30. Mär., 17:16 Uhr]
Ich wäre an sich nicht...
Ich wäre an sich nicht uninteressiert, nehme aber an,...
[Modeste - 30. Mär., 15:25 Uhr]

Komplimente und Geschenke

Last year's Modeste

Über Bücher

Suche

 

Status

Online seit 7129 Tagen

Letzte Aktualisierung:
15. Jul. 2021, 2:03 Uhr

kostenloser Counter

Bewegte Bilder
Essais
Familienalbum
Kleine Freuden
Liebe Freunde
Nora
Schnipsel
Tagebuchbloggen
Über Bücher
Über Essen
Über Liebe
Über Maschinen
Über Nichts
Über öffentliche Angelegenheiten
Über Träume
Über Übergewicht
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren