Dienstag, 24. Mai 2005

Die polnische Reise (Teil 2)

„Kann ich bei dir waschen?“, fragt der geschätzte ehemalige Gefährte, und ist zwanzig Minuten später bei mir mit einer großen Tasche voll mit weißen Hemden. „Wie war´s Wochenende,“ fragt er und stopft seine Hemden in die Wäschetrommel. „Viel unterwegs,“ sage ich und biete Tee an. Als wir uns, den Tee in der Hand, gegenüber sitzen, fragt er nach: Es stünde ja noch eine Geschichte aus. „Ach ja.“, sage ich. Die polnische Reise:

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Von Warschau nach Krakau

Jeder kennt Hotels, die geschaffen sind für die möglichst triste Inszenierung des eigenen Ablebens, Kulissen des schlechten Gewissens für jene, die uns Stunden warten lassen, allein zwischen durchgelegenen Matratzen und fleckigen Wänden. Mit kaltem Tee in einem großen Krug, ein bißchen Gebäck aus der Tüte und ein paar schrecklichen Büchern, die andere Gäste im Hotel gelassen hatten, ließ der Tag sich herum bringen, und am Abend stand R. in der Tür.

Warum R. nach einem wahrhaft dramatischen Abschied sich überhaupt dazu hinreißen ließ, auf ein simples Telephonat zum Bahnhof zu fahren, und ganz allein zwanzig Stunden nach Osten zu fahren, ist mir bis heute unbekannt. Allein, er fuhr, und zerstritten mit J²., nach Stunden missgestimmten Brütens, fiel ich dem erschöpften, unrasierten R. um den Hals, und für ein paar Stunden, wenige Stunden nur, war alles gut.

„Lass uns ein bißchen umschauen.“, sagte der R. am nächsten Morgen. „Ich mag Warschau nicht.“, sagte ich, und bestand auf sofortiger Abreise.

Von Krakau nach Misdroy

Die Schönheiten Krakaus anzupreisen ist nicht meines Amtes, auch wenn es viel zu preisen gäbe zwischen Wawel und Hauptmarkt, das Zimmer in der Slowackiego war charmant und sauber, und das Essen erwies sich als fett, üppig und entsprechend nervenberuhigend. Tagsüber erklärte mir R. alle Baudenkmäler anhand eines Dumont-Kunstreiseführers, und ich ging eine Menge zu Fuß. - In der Kirche der Heiligen Anna stand J². und strich um die Altäre.

„Was machst du denn hier?“, gehört sicher schon seit Generationen - ach: Äonen - zu jenen Redensarten, die auch unter den Theaterautoren der sehr leichten Muse verpönt sein dürften. Zu banal sind jene Zufälle, die bekannte Gesichter an fremden Orten zusammenführen. Die Realität indes, grinsende Schmierenkomödiantin, schert sich nicht um Geschmack und Sitte, und so war J² nur einen Tag nach uns von Warschau aufgebrochen, um der wahren Schönheiten Polens teilhaftig zu werden.

„Ist euer Hotel in Ordnung?“, fragte J²., ich bejahte, und noch am selben Abend bezog J². gegen geringen Aufpreis die Couch im angemieteten Zweibettzimmer. Am nächsten Nachmittag schon flogen die Fehdehandschuhe scheppernd durch die Luft, R.´s Konventionalität, J².´s Egozentrik und alle meine Launen stapelten sich auf dem Schreibtisch, und das einzig wahre Wort des Tages rührte nicht von mir her: „Ich hasse euch.“, sagte R. und verschwand. Müde, verschwitzt und zerkratzt erschien er am nächsten Morgen. - Wir nahmen unser Besuchsprogramm wieder auf und stritten uns erst abends.

„Ihr seid scheußlich!“, sagte J², auf seiner Couch liegend, und blätterte in einem Ausstellungskatalog. „Wir könnten so einen herrlichen Urlaub haben. Es ist großartig hier.“ – R. starrte an die Decke und machte einen mehr als nur strapazierten Eindruck. Die Reise schien ihm nicht zu gefallen.

„Wir sollten an die See fahren.“, schlug ich vor, denn es ist bekannt, dass Kunstdenkmäler durch das ihnen eigene hohe Maß an Verfeinerung ein nervöses, verschlungenes Odeur an ihre Rezipienten weitergeben, wohingegen das Meer die Nerven beruhigt. „Misdroy“, sagte der R., der sich auskannte, und zu dritt erwarben wir eine Fahrkarte und verließen Krakau am nächsten Tag.

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„Ich muss los.“, sagt der geschätzte ehemalige Gefährte, und erwähnt missmutig Termine am frühen Morgen. „Bis bald“, sage ich. „Ich komme die Hemden über die Tage mal abholen.“, sagt er, und bittet um Fortsetzung. „Der Rest ist langweilig.“, sage ich. „Erzähl´s trotzdem.“, sagt er, und winkt die Treppe hinauf, die leere Tasche über der Schulter.


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