Mittwoch, 7. September 2005

Verlorene Paradiese

Wo sind sie hin, die kalten Platten der Vergangenheit, diese untergegangenen kulinarischen Welten: Acht Jahre bin ich alt, Sonntagnachmittag ist es, vielleicht ein Geburtstag, und ich sitze auf dem weißen Hocker am Küchentisch meiner Großmutter und plaudere ihr ein wenig über meine verhasste Mathelehrerin vor und über die ersten Reitstunden auf einem großen Pferd statt auf dem verachteten, dicken, langsamen Pony. Im Wohnzimmer sitzen die Herren, manchmal hört man ihr dröhnendes Lachen bis in die Küche, die Damen haben es sich im Esszimmer gemütlich gemacht, die Pumps ausgezogen und plaudern über Dinge, für die ich noch zu klein bin, wie man mir sagt, wenn ich mal nachfrage.

Meine Großmutter stellt die Platten auf den Tisch, achtelt Zitronen und Tomaten, schickt ihre Schwiegertöchter in den Keller, wo die fertigen Platten stehen, und braust dicke Büschel Petersilie ab. Mir wird eine Schale harter Eier hingestellt, die ich pellen soll, die Hälfte darf ich mit dem Eierschneider für den Salat vorbereiten, die andere Hälfte wird halbiert und mit Appetitsild aus der Dose dekoriert oder mit deutschem Kaviar. Dem Suppenhuhn von der Bouillon vom Mittagessen wird das Fleisch abgeschält für den Geflügelsalat mit Mayonnaise, Sellerie und Äpfeln in ganz dünnen Streifen. Der ganze, gekochte Lachs, mit einer dünnen Schicht Aspik überzogen, damit er schön glänzt, steht aufrecht auf einer der Platten, die Jagd- oder Fischereiszenen darstellen, auf dem Rand werden die halbierten Eier drapiert, und das Ensemble liegt auf einem Kissen krauser Petersilie. In weiten Glasschalen wird der Krabbencocktail verteilt, gleichfalls üppig verziert mit Zitronenachteln; Wurstscheiben werden gerollt, Käsescheiben mit Paprika edelsüß bestäubt, und Forellenfilets sternförmig auf einen großen, runden Teller gelegt, den ich am liebsten habe, weil er einen dicken Tanzbär zeigt, der von einem Mann an einer Leine herumgeführt wird. Ab und zu stecke ich mir eine Scheibe Käse in den Mund, eine Olive, und schneide mit einem gezackten Messer Muster in Radieschen und fülle mit einem Löffel Butter in kleine Förmchen, so dass sie aussieht wie Blumen oder Fische. Meine Großmutter füllt Tomaten mit Mayonnaise und mischt Salat in riesigen Schüsseln.

Ach, aus und vorbei. Die Großmutter ist lange tot, die Verwandtschaft zerstreut seit der Beerdigung des Großvaters, als sich alles in die Haare geriet, lautstark und giftig. Das Haus verkauft, die Platten und Teller in einer der Kisten, die auf dem Dachboden stehen, weil sie keiner haben will, denn besonders schön sind sie nicht, und zu groß dazu. Bin ich eingeladen irgendwo an jene Tische, die meinen Freunden gehören, so gibt es keine kalten Platten, höchstens Antipasti, vielleicht eine Platte mit Käse, aber jene überladenen, fettigen Freuden sind verschwunden, vom Orkus der Zeit verschluckt, und keiner will sie mehr essen.

Ob es schade ist drum? Ich habe sie nicht gemocht, die kalten Zungenscheiben gerollt und gefüllt mit Kapern oder Kresse. Die Pasteten mit den Teigblümchen obendrauf und den kalten, gelben Fettstückchen auf der Oberseite der Fleischfüllung. Die Kartoffelsalate mit Gänseschmalz, deren fettigen Geschmack ich bis heute auf der Zunge habe. Die Aspikorgien, und was wurde nicht irgendwann in Aspik gegossen in jenen Tagen? Das trockene Roastbeef in Scheiben.

Sei es, wie es sei. Stehe ich im KaDeWe im obersten Stockwerk, wo sie fast alles haben, was man essen kann, stehe ich nicht vor den Torten von Lenôtre, nicht vor den Gänsestopflebern und selbst vor der Vitrine mit dem französischen Käse nur ganz kurz. Vor der Vitrine mit dem kalten Platten bleibe ich stehen, betrachte die Schalen mit dem Krabbencocktail, die gerollten, gefüllten Schinkenscheiben, die gefüllten Eier und die dekorierten Gurken, und denke einen Moment zurück an die verlorenen Paradiese, die mir auf ewig im Herzen bleiben – gefüllt mit Mayonnaise, dekoriert mit Petersilie und ein Tomatenachtel mit einem Zahnstocher festgesteckt obendrauf.


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