Sonntag, 18. September 2005

Frau Modeste streitet sich

„Mir geht´s nicht gut.“, jammere ich ein bißchen, und sehe dem J.² zu, wie er sich umständlich aus seiner Jacke pellt. Eine Viertelstunde der Beschreibung von Art und Umfang meiner persönlichen Kalamitäten später schaue ich den J.² auffordernd an und warte auf seine Stellungnahme. „Du erwartest nicht ernsthaft Mitleid, oder?“, kommt es prompt von der anderen Seite des Tisches. „Ich fühle mich wie vom Panzer überfahren, und dich interessiert das nicht?“, wälze ich mich ein bißchen in Selbstmitleid, der J.² aber nickt sichtlich gelangweilt und vertieft sich in die Karte.

„Wenn irgendwer auf Erden seine Probleme von vorn bis hinten selber verschuldet hat, Herzchen, dann dürftest du das sein.“, spricht der J.² über den Rand der Speisekarte hinweg und empfiehlt mir für die Wahl eines Beinamens, wenn ein solcher demnächst wieder einmal Mode werden sollte, „Bulldozer“. Wahlweise auch gerne „Rindvieh“.

„Muh!“, sage ich ein wenig gereizt, und wende mich der Kellnerin zu. „Ein Gin Tonic!“, bringe ich knapp heraus, aber der J.² unterbricht mich: „Ein Bier für mich und einen Pfefferminztee für die Dame.“ Wortlos nickt die Kellnerin und verlässt unseren Tisch. „Du bekommst heute keinen Alkohol.“, meint der J.², „auf irgendwelche melodramatischen Auftritte kann ich gut verzichten.“ „Du bist nicht mein Vater!“, zische ich meinen Begleiter an. „Der hätte gut daran getan, dich auch ein bißchen zu erziehen, und nicht nur zu verwöhnen.“, kommt es postwendend zurück.

In Bezug auf meinen Vater bin ich empfindlich. „Deine Mutter...“, fange ich deswegen an, und der J.² zieht missbilligend die Stirn in Falten. „Meine Mutter ist hier nicht Gegenstand des Tischgesprächs, okay?“, tönt es nun schon ziemlich laut, und über die nun folgenden Auseinandersetzungen fällt an dieser Stelle zu recht der gnädige Mantel des Schweigens.

„Musst du eigentlich so viel rauchen?“, unterbricht der J.² sein allgemeines Lamento über meine Wesensart, und nimmt mir die Zigarette aus der Hand, um die kaum angerauchte auszudrücken. „Aber du bist fehlerfrei, ja?“, keife ich zurück. „Ich habe immerhin eine funktionierende Beziehung.“, stochert der J.² ein bißchen in meinen Eingeweiden, und provoziert ein paar wohlgezielte Bosheiten über seine Freundin. - „Warum gebe ich mir das überhaupt? Wie hält man dich eigentlich aus? Bekommt man einen Orden für jeden Monat Beziehung ohne Mordversuch?“, theatralisch fasst sich der J.² an die Stirn und steht auf. „Du kommst allein nach Hause?“, fragt mein Begleiter, und verschwindet.

„Einen Gin Tonic.“, bestelle ich nun, und blättere ein bißchen in Szerbs „Reise im Mondlicht.“. Ein paar Seiten später ist der J.² wieder da.

„Und? Wieder abgekühlt?“, fragt er, und legt eine Schachtel Halloren-Kugeln vom Spätverkauf auf den Tisch. „Kleiner Trost.“. Ohne den J.² anzuschauen, greife ich nach der Schachtel mit den Süßigkeiten. Blitzschnell zieht der J.² die Schachtel wieder weg und streckt mir einen Apfel entgegen. „Erst ein paar Vitamine. Wir werden ohnehin ein bißchen rundlich in letzter Zeit?“ – Knapp widerstehe ich der Versuchung, ihm den Apfel einfach ins Gesicht zu werfen und greife statt dessen verbal zu schwerem Geschütz.

„Schön, dich mal wieder zu sehen.“, verabschiedet sich der J.² einige Stunden gegenseitiger Beschimpfung später vor meiner Haustür. „Hast du Dienstag Zeit für ein spätes Bier?, fragt er und wendet sich Richtung Bahn“ „Für dich doch immer. Wenn´s geht diesmal friedlich.“, sage ich, und höre im Hintergrund eine Art Hühnerchor höhnisch lachen.


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