Dienstag, 11. Oktober 2005

Sträuße, doch die Blätter fehlen

Er kam nicht. Vergeblich wartete ich auf ihn vorm Kino, sah den Paaren hinterher, die stetig weniger wurden, und schließlich blieben auch die Nachzügler aus. Das Mädchen hinter der Kasse schaute mich an, zuckte fragend mit den Schultern, packte zusammen und verschwand. Ich schloss mein Rad vom Fahrradständer und fuhr die drei Kilometer bergan bis zu seiner Wohnung.

„Bist du da?“, rief ich in die dunkle Türöffnung. Die Wohnung blieb still. Das große Zimmer schien leer. Ich würde hier auf ihn warten, beschloss ich, setzte mich aufs Sofa, blätterte ein wenig in den Zeitungen, und ging eine kleine Weile später in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen, damals, als ich den Kaffee noch vertrug. Er saß unterm Tisch.

„Was tust du da?“, fragte ich. „Geh weg.“, sagte er, schluchzte auf, und drehte mir den Rücken zu. In Krämpfen zuckten seine Schultern, ich kniete mich neben ihn und streichelte ihm vorsichtig über die Arme. „Alles in Ordnung?“, fragte ich, obwohl sichtbar, spürbar alles ganz und gar nicht in Ordnung war. Als hätte ich mit meiner Berührung einen Hebel umgelegt, wurde sein Weinen lauter, den Kopf zog er zwischen die Beine und schrie etwas in den Jeansstoff, das ich nicht verstehen konnte. „Komm da raus!“, schrie ich ich an. „Mach das Licht aus.“, sagte er, und taumelte unter dem Tisch hervor. In der dunklen Küche standen wir uns gegenüber, mit einer Hand hielt er sich an der Kante der Küchenplatte fest, und die dunklen Haare fielen ihm glatt und ein wenig zu lang in die Stirn. Er sah an mir vorbei durch die Küchentür und fixierte irgendetwas, was ich nicht sehen konnte. Minutenlang standen wir uns gegenüber.

Vielleicht hätte ich ihn umarmen sollen an diesem Julitag vor fast zehn Jahren. Vielleicht hätte ich einfach gehen sollen, seinen Schlüssel auf den Tisch legen, und drei Treppen abwärts auf jeder Stufe ein Gramm Liebe liegenlassen sollen. Statt dessen schrie ich ihn an. „Nimm dich zusammen!“, brüllte ich, oder so. Vielleicht auch: „Ich will nicht, dass du so bist.“, was eine glatte Lüge war, aber auch das würde ich erst Jahre später wissen. An den lose an seine Seiten baumelnden Armen zog ich ihn ins Bad, schrie immer lauter, ich weiß nicht, was, und drängte ihn, der 1,90 Meter groß war und athletisch dazu, in die Dusche. Er sah mich nicht einmal an, als der Wasserstrahl kalt seinen Körper herauf und herunter fuhr. Nass und schwer hing sein Polo-Shirt an ihm, und von seinen Schuhen zogen braune Schlieren Richtung Ausguss. Er sprach kein Wort und sah den Schlieren nach, die heller wurden und schließlich aufhörten, das Wasser zu verfärben.

Irgendwann ging ich.

„Gestern ging´s mir nicht so gut.“, sagte er am nächsten Morgen, scherzte wieder, lachte mich ein bißchen aus, zog mich an den Haaren, die damals so lang waren, dass ich sie ihm einmal um den Hals wickeln konnte, und las mir vor. Am Abend machten wir Pläne, überlegten, wieder nach Sylt zu fahren, wo wir uns getroffen hatten ein paar Wochen zuvor, oder nach Rom oder überhaupt irgendwohin. Am nächsten Tag aber blieb sein Anruf aus, auch am übernächsten Abend hatte ich nichts von ihm gehört, und als ich eine Woche später vor der Tür stand, forderte er seinen Schlüssel zurück.

„Du saugst mir die Seele aus.“, sagte er, und schloss die Tür von innen. Viel später, Stunden später, stieg ich langsam die Treppen herab, lauschend, ob er mich nicht doch zurückrufen würde.

Die Tür aber blieb geschlossen.



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