Donnerstag, 13. Oktober 2005

Die Stille über den Wassern

Am Anfang war das Wort, dann aber erhob sich eine Gegenstimme, eine dritte Stimme befragte die erste nach den Hintergründen ihrer Ansicht, und schließlich – der Schöpfer der ganzen Veranstaltung war gerade schlafen gegangen – tobte ein großes Durcheinander, alle redeten gleichzeitig, und am Ende verstand keiner mehr auch nur sein eigenes Wort:

Angela Merkels Mann, so schreibt beispielsweise die Zeitung, will nicht den Kanzlergatten geben; die Kunstmesse München wird fünfzig, und der Kandidat einer Quizshow im Fernsehen bekommt eine zweite Chance. 557 Kilo, lese ich, muss ein Kürbis gewinnen, um einen Wettbewerb zu gewinnen, und die meisten Journalisten lesen die Süddeutsche Zeitung. Ein Brei von Neuigkeiten wälzt sich papieren durch meinen Briefkasten, durch mein Gehirn, und fällt wirkungslos irgendwo zu Boden.

Ich muss das, denke ich und lasse die Süddeutsche sinken, nicht wissen. Auf meinen Alltag hat all dies keinen Einfluss. In der Welt, in der ich mit einer Tüte voller Äpfel die Schönhauser Allee entlang nach Hause laufe, ist Guido Westerwelle belanglos, und Elke Heidenreich keine Literaturkritikerin. Meinen staatsbürgerlichen Pflichten komme ich nach; täte ich dies nicht – wen würde es stören? Welche Auswirkungen hat diese Welt aus roten Teppichen und grünen Tischen auf meine Welt aus dicken Büchern und langen Telephonaten, Gin Tonic im drei und heißer Schokolade im kakao und den neuen Schuhen der besten Freundin? - Brausend und mit tausend Zungen redend wie ein Meer aus bunten Bildern und belanglosen Neuigkeiten rauscht die Welt an meiner Welt vorbei.

Nie ist es still. Nie ist es wichtig. Die Politik? Lasst´s mich doch alle aus, denke ich: Der Einfluss der Politik auf meine Existenz ist ein denkbar geringer. Das Feuilleton? Nur einen Bruchteil der besprochenen Aufführungen werde ich jemals zu Gesicht bekommen, und was die Berliner Opern, die Berliner Theater auf die Bretter bringen, wird man mir auch so erzählen. Die Theaterkritik, geschrieben von Leuten, die anders sind als ich, für Leute, die noch anders sind, als ich es jemals sein möchte, ist so egal, so egal für mich wie die Kritik der Neuerscheinungen. Jaja, denke ich, wenn die ZEIT eine Inszenierung von Castorf verreisst, die Süddeutsche ein Buch von Juli Zeh lobt.

Nie hört das Brausen auf. Der O. macht sich Sorgen um Deutschland, und die C. würde niemals Sozialdemokraten wählen. Der J.² würde die GRÜNEN unterstützen, wenn Oswald Metzger wichtiger wäre oder Jürgen Trittin tot, und der J. kann die FDP nicht ausstehen. Ein Glück, denke ich, zumindest keinen Fernseher zu besitzen, ein offenes Tor für das Getriebe der Welt.

Wie es wäre, stünde das Mühlrad auf einmal still? Der Lärm würde verstummen, in der Mitte der Welt entstünde vielleicht eine große Leere, die neu gefüllt würde. Ein leerer, heller, stiller Raum, der Platz schaffen würde für eine Stimme, die zu leise ist, um gehört zu werden? Eine Raum der Ruhe, eine Mitte, in der vielleicht etwas sichtbar würde, das jenseits der vergeblichen, hässlichen Zuckungen dieser Spätzeit von einer entrückten, erhabenen Schönheit wäre, nach der wir suchen, und die wir nicht sehen können, betäubt von dem Quietschen eines Betriebes, den wir verachten, negieren, und doch nicht abschalten können.


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