Montag, 24. Oktober 2005

Wenn die Götter uns bedenken

„Die Zauberflöte?“, sagt der J. und schüttelt den Kopf. Die habe man nun wirklich tausendmal gehört, alles andere, aber mit der Mozart´sche Märchenoper mit Prinz und Prinzessin, der bösen Königin der Nacht und dem gütigen Sarastro sei es nun einmal genug. „Hast schon recht.“, sage ich, lese weiter im Programm, und einige mich mit dem geschätzten ehemaligen Gefährten auf „Die Meistersinger von Nürnberg“.

Vorbei ist´s also mit Vogelmensch und Flötentönen. Damals aber..., denke ich, und lächele ein bißchen in meinen Wein:

„Malst du mich auch?“, fragte ich meine Mutter, die vorm Spiegel stand und sich schminkte. Mit einem rosa Lippenstift malte sie mir zumindest den Mund, steckte mir die Haare hoch, im Nacken mit einer riesengroßen Schleife, passend zum Lieblingskleid, einem roten Kleidchen aus Taft mit einer passenden Tasche dazu, die die „Glitzertasche“ hieß, weil der Verschluss mit ein paar Strassteinen besetzt war. Acht Jahre alt muss ich gewesen sein, der Klavierunterricht hatte die Musik noch nicht mit dem Odium vergeblicher Anstrengung bestrichen, und der Nikolaus hatte mir die Opernkarte nebst Fruchtschnitten, Honigkuchen und Bio-Bärchen in die Stiefel gesteckt. Auf dem Plattenteller meines ersten Plattenspielers drehte sich „Die kleine Zauberflöte“, extra für Kinder, aus den Boxen meines Vaters drang die Zauberflöte unter Karajan, mit Wilma Lipp als Königin der Nacht, und immer wieder hob mein Vater den Arm des Plattenspielers, um ein weiteres Mal ein Stück zurückzusetzen, auf das eine oder anderen Motiv hinzuweisen, die Dreizahl, den Fugenaufbau der Ouvertüre, die Orchestrierung, sprang zurück in die Ouvertüre, erklärte Zuordnungen und Funktion der Harmonien, brachte eines Abends sogar ein Poster mit, auf dem ein Orchester zu sehen war, und ermahnte mich, in der Oper stillzusitzen und auf keinen Fall zu murren oder aufzustehen, denn dann dürfe ich nie wieder mit. Empört wies ich die Unterstellung zurück: Schwesterchen vielleicht, die sei noch zu klein und gerade erst eingeschult, ich aber ja schon in der dritten Klasse und daher ganz und gar imstande, stundenlang so ruhig dazusitzen wie ausgestopft.

„Oh, das ist toll.“, drückte mich die beste Freundin meiner Mutter, bei der das beleidigte Schwesterchen übernachten sollte, und wünschte viel Spaß. Im Auto schärfte mein Vater mir nochmals äußerstes Stillschweigen ein, wies warnend auf den Ausschluss von der Veranstaltung hin, und ließ meine Mutter und mich vorm Portal aussteigen auf der Suche nach einem Parkplatz. Hell angestrahlt stand das Opernhaus, wunderschön war das Publikum angezogen, fand ich, und mit einer gewissen Enttäuschung sah ich den anderen Kindern zu, die an der Hand ihrer Eltern das Portal durchschritten: So erwachsen schien die Veranstaltung nicht zu sein, wie ich mir erhofft und erwartet hatte. Am Orchestergraben standen viele Kinder, denen Mutter oder Vater mit weitausholenden Bewegungen die Instrumente erklärte. Das Rascheln des Publikums, die leisen Unterhaltungen, das Treiben im Orchstergraben – mein Vater fürchtete ernsthaft für den reibungslosen Verlauf des Abends. Aufgeregt und wie ein Gummiball hin und her hüpfend lief ich von einer Seite zur anderen, war mit Mühe auf dem Klappsitz zu halten, und rutschte zudem stetig von dem Polster, das meine Eltern mitgebracht hatten, um eventuell anstehenden Sichtproblemen aus dem Weg zu gehen. Als es aber still wurde, als die Musik begann, als die Streicher einstimmten, versank die Welt und löste sich auf in einem Sprühregen aus Musik und Farben.

Und manchmal, beim Einnehmen der Sitze, in jenem Moment zwischen der Unruhe des Tages und der Ordnung und Harmonie der Musik, eingeklemmt zwischen dem mokanten Lächeln der Freunde, gefangen in der Überfütterung zweier Jahrzehnte, steigt jener Moment noch einmal auf: Ganz neu, ganz rein, bar der Flut von Eindrücken, Interpretationen, dem ironischen Lächeln derer, die zuviel gesehen und gehört haben, um in jener Begeisterung aufzugehen, die kein Tropfen schwarzes Wasser färbt, und ich beneide die Kinder im Kleidchen oder im Samtanzug mit Schleife um den Hals, die zum erstenmal unter den Linden sitzen, wenn die Musik aufsteigt und der Vorhang sich öffnet.


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