Mittwoch, 26. Oktober 2005

Die E-Mail-Exegese

„Ruft sie dich auch die ganze Zeit an?“, fragt mich die A., ich bejahe, und die A. macht sich ein klein wenig lustig über die gemeinsame Freundin B.³, die der jüngst geschlossenen Bekanntschaft mit einem jungen Herrn eine Relevanz beizumessen scheint, die angesichts des bisher mäßigen Grades an Vertrautheit nur durch die Seltenheit zu erklären ist, mit der überhaupt Männer im Leben der B.³ auftauchen, denn besonders gutaussehend oder originell, so die A., sei der betreffende Herr ja anscheinend nicht. Vor den Kühlregalen bei MINIMAL in der Kulturbrauerei habe die B.³ ihn aufgelesen, vernehme ich, im Café November um die Ecke habe man einen Kaffee getrunken und war sich so sympathisch, dass immerhin ein abendliches Bier und eine weitere , zunächst unterminierte Verabredung aus dem Zusammentreffen resultierten. Nicht nur die B.³ allerdings ist eine durchaus vielbeschäftigte Person, auch der Herr aus dem Supermarkt verbringt viele, viele Stunden in seinem Anzug hinter dem Schreibtisch, und so versuchen die B.³ und ihr neuer Bekannter per E-Mail schon seit Anfang der Woche einen Termin zu finden, an dem beide gleichermaßen verfügbar sind.

„Hallo B.³,“, schreibt der interessante junge Herr beispielsweise am Montagmorgen und schlägt den Donnerstag vor. Der Donnerstag, teilt die B.³ auch mir in einer Mail über den Stand der Dinge mit, sei leider miserabel, denn da käme sie so spät aus Frankfurt am Main wieder, dass eine Verabredung einzugehen schierer Blödsinn wäre. Das schlichte „Hallo“ der Grußzeile allerdings sei doch ohnehin ein fast sicheres Zeichen, dass der Herr aus dem Supermarkt gar kein weitergehenderes Interesse habe? Was ich denn davon hielte, denn „hallo“ schriebe man doch wirklich nur, wenn man gerade nicht dabei sei, sich zu verlieben? Und was haben „schöne Grüße“ zu bedeuten?

Ein klein wenig ratlos sitze ich vorm Rechner und überlege, ob es einen Kodex der emotionalen Interessengrade gäbe, in dem jedem Grad an Interesse eine bestimmte Anrede- und Grußformel zugeordnet ist, und komme zu durchaus negativem Ergebnis. „Das hat bestimmt gar nichts zu bedeuten.“, schreibe ich deshalb zurück, und sehe eine knappe halbe Stunde später erneut eine E-Mail einlaufen. „Liebe Grüße“, habe man ihr soeben gemailt, und mangels Alternativen nun doch den Donnerstagabend als Option mit vorheriger telephonischer Bestätigung vereinbart. – „Liebe Grüße“ indizierten doch aber ein gesteigertes Interesse gegenüber nur schönen, besten, vielen Grüßen? Die A. könne sie da leider nicht konsultieren, die habe sich weitere Nachfragen wegen Irrelevanz verbeten, und die B. sei gerade nicht erreichbar.

„Ich glaube nicht, dass sich Männer über solche Fragen Gedanken machen.“, maile ich zurück, und überlege, ob ich selber, wenn auch durchaus weiblich, mir eigentlich zu irgendeinem Zeitpunkt meiner an unnötiger Aufregung ja immerhin reichen Biographie auch noch über diese Fragen Gedanken gemacht hätte, und komme zu negativem Ergebnis: Oberhalb der „freundlichen Grüße“, die auch dem Landgericht Berlin gelten können, und unterhalb eines schmachtenden „Lieblings“ fällt mir die Grußformel normalerweise nicht einmal auf, und auch die eigene Anrede wie Unterzeichnung gehört nicht zu den Dingen, denen meine Geistestätigkeit gilt. Auf der anderen Seite mag es gerade die unbewusste Wahl der Gruß- wie Anredezeilen sein, die den gewählten Formen Bedeutung unterlegen, denn vielleicht manifestiert sich gerade im Spontan-Unkalkulierten der Grad an Vertrautheit, der entweder besteht oder erstrebt wird? Indes, gebe ich der B.³ zu bedenken, seien die individuellen Abweichungen zu groß, um allgemeingültige Schlüsse aus diesen Umständen zu ziehen – schreibt doch etwa unsere liebe A. alle ihre Freunde beiderlei Geschlechts mit „Schätzchen“ an, derweilen die einzige „Süße“ meines Begrüßungsrepertoires mein Schwesterchen ist und bleibt. Die „lieben Grüße“ pinsele ich unter manche E-Mail, die eben lieben Menschen gelten, während die C. selten über ein knappes „VG – C.“ hinausgeht.

Möglicherweise denke ich, ist aber auch der betreffende Herr derlei Subtilitäten nicht abgeneigt, und signalisiert der B.³ auf diesem Wege doch mehr, als ich in aller Regel verstehe? Wie viele dezente Signale von Interesse und Desinteresse mag ich in den letzten 15 Jahren übersehen haben, die ich mich normalerweise ausgiebig lediglich mit der Tatsache, was und wann geschrieben wird, beschäftige? Ich, die ich mit der Konsequenz sofortiger Kontaktverweigerung die Wände hochgehen kann, mailt das Opfer meines aktuellen Interesses zu spät, zu selten, und zu knapp auf ausführliche Schreiben meinerseits – sollte ich eine komplette Kommunikationsebene einfach übersehen haben?

„Alles Quatsch.“, meint die A., und rät als erfahrene Pistensau auf den Schneisen fremder Herzen zu einer ebenso unaufgeregten wie offenbar erfolgreichen Verfahrensweise: Immer einen Grad weniger vertraulich als der andere. Und immer einen Tag zu spät.

„Und das klappt?“, frage ich ein wenig verblüfft über die Schlichtheit des erfolgreichen Liebeslebens. „Bei mir ja.“, antwortet die A., und hat den Pferdefuß damit praktischerweise gleich miterwähnt.


Benutzer-Status

Du bist nicht angemeldet.

Neuzugänge

nicht schenken
Eine Gießkanne in Hundeform, ehrlich, das ist halt...
[Josef Mühlbacher - 6. Nov., 11:02 Uhr]
Umzug
So ganz zum Schluss noch einmal in der alten Wohnung auf den Dielen sitzen....
[Modeste - 6. Apr., 15:40 Uhr]
wieder einmal
ein fall von größter übereinstimmung zwischen sehen...
[erphschwester - 2. Apr., 14:33 Uhr]
Leute an Nachbartischen...
Leute an Nachbartischen hatten das erste Gericht von...
[Modeste - 1. Apr., 22:44 Uhr]
Allen Gewalten zum Trotz...
Andere Leute wären essen gegangen. Oder hätten im Ofen eine Lammkeule geschmort....
[Modeste - 1. Apr., 22:41 Uhr]
Über diesen Tip freue...
Über diesen Tip freue ich mich sehr. Als Weggezogene...
[montez - 1. Apr., 16:42 Uhr]
Osmans Töchter
Die Berliner Türken gehören zu Westberlin wie das Strandbad Wannsee oder Harald...
[Modeste - 30. Mär., 17:16 Uhr]
Ich wäre an sich nicht...
Ich wäre an sich nicht uninteressiert, nehme aber an,...
[Modeste - 30. Mär., 15:25 Uhr]

Komplimente und Geschenke

Last year's Modeste

Über Bücher

Suche

 

Status

Online seit 7128 Tagen

Letzte Aktualisierung:
15. Jul. 2021, 2:03 Uhr

kostenloser Counter

Bewegte Bilder
Essais
Familienalbum
Kleine Freuden
Liebe Freunde
Nora
Schnipsel
Tagebuchbloggen
Über Bücher
Über Essen
Über Liebe
Über Maschinen
Über Nichts
Über öffentliche Angelegenheiten
Über Träume
Über Übergewicht
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren