Dienstag, 29. November 2005

Aus dem Leben eines Miststücks

„Von mir hat sie das nicht.“, berichtet meine liebe Freundin J., pflege ihre Mutter ihrem Vater vorzuwerfen, wenn das Verhalten der J. von der mütterlichen Idealvorstellung töchterlichen Lebens wieder einmal erkennbar abgewichen sei, und verweise in diesen Fällen jeweils auf die jüngste Schwester des Vaters, J.‘s Tante R.. „Und was war mit der Dame?“, frage ich nach, und gieße mir einen weiteren Tee ein.

Die R. erfahre ich, sei als jüngste Schwester ihres Vaters bereits in jungen Jahren für ungefähr die Hälfte aller behandlungsbedürftigen Psychosen männlicher Patienten in den einschlägigen Leipziger Klinika der Fünfziger Jahre verantwortlich gewesen. Reihenweise verfielen jugendliche Sachsen der schönen Person, strichen wochenlang ums Haus, wurden nur so zum Spaß ein wenig ermuntert, um dann nach kurzer Zeit scheinbarer Annäherung aus dem Dunstkreis der R. verstoßen zu werden. Die Abschaffung des jeweiligen Galans, erzählt man sich in der Sippe der J., sei jedesmal mit einiger Phantasie und gehörigem dramatischen Talent verlaufen, und habe seine destruktive Wirkung auf die Psyche der Anbeter auch eigentlich selten verfehlt.

Kurz vor Ablauf jener Jahre, bis zu deren Ende eine junge Person in jenen Zeiten verheiratet zu sein hatte, erhörte die R. dann doch noch einen Kommilitonen ihres Bruders und setzte ihr Tun und Treiben ansonsten fort. Schreckliche Ernte, erzählt man sich auf Familientreffen, hielt die R. unter der männlichen Leipziger Bevölkerung, insbesondere unter jenen Herren, die sich der Wissenschaft oder der Kunst widmeten.

Tante R., berichtet die J. weiter, sei Männern zwar lebenslänglich außerordentlich zugetan gewesen, habe aber dafür Frauen in Bausch und Bogen nicht ausstehen können. Dass die Mutter der J. als Frau des großen Bruders auf wenig Gegenliebe stoßen würde, war schon aufgrund dieses Faktums nicht besonders verwunderlich, und endete bei den zunehmend spärlicher werdenden Familientreffen jener Jahre regelmäßig in lautstarken Zwistigkeiten, die die Tante, wenn auch wohl als einzige, sichtlich zu genießen schien.

Die Abneigung der Tante R. gegen Frauen erstreckte sich sogar auf die eigenen Leibesfrüchte. So sehr ihr Sohn verzogen wurde, so schlecht habe sie die Tochter behandelt, und diese frühzeitig erst immer mehr, und schließlich ganz der eigenen Mutter überlassen, die an der Tante R. als erklärtem Lieblingskind ohnehin kein falsches Haar zu erkennen in der Lage gewesen sei. Die Vergötterung der Tante R. durch die Großmutter der J. sei so weit gegangen, dass es dieser in späteren Jahren gelungen sei, auf verschlungenen, und nicht ganz aufklärbaren Wegen - möglich sei in diesem sehr speziellen Fall auch die Verbreitung barer Unwahrheiten - als Alleinerbin eingesetzt zu werden.

Als sich die Mutter der Tante R. schließlich im Krankenhaus befand, und von der Krankheit zum Tode auszugehen gewesen sei, habe sich Tante R., erzählt die J. weiter, unverzüglich zum elterlichen Heim begeben, und Schmuck, Silber und Wertgegenstände an sich gerafft. Das Leben habe sich jedoch auch in diesem Fall als eine durchaus zähe Pflanze erwiesen, und so sei die Mutter noch einmal zurückgekehrt. Da den Versicherungen der Tante R., J.‘s Vater sei aus Berlin angereist gekommen, habe ihr gewaltsam den Schlüssel entwendet und sodann aus Ärger über die Enterbung alle wertvollen Besitztümer mit sich genommen, Glauben geschenkt wurde, durfte J.‘ Vater nicht zur kurze Zeit später stattfindenden Beerdigung der Mutter erscheinen und habe dies seiner Schwester dann auch einige Zeit ein wenig übel genommen.

Ein gewisses Gefühl habe bei dieser – und nur bei dieser – Gelegenheit die Tante R. indes, wenn auch auf sonderbare und etwas abseitige Weise, erkennen lassen. Sie habe das mütterliche Haus nämlich weder vermietet noch verkauft, nicht einmal hineingangen sei sie, sondern habe die Liegenschaft in guter Leipziger Lage schlicht abgeschlossen, und die Schlüssel mit sich genommen. Seit mehr als zwanzig Jahren, versichert die J., habe keine lebende Seele dieses Haus mehr betreten, und auch der Tod der Tante R. selber habe diesen Zustand nicht verändert. Der hinterbliebene Gatte der Tante R. nämlich halte sich nach wie vor an die Anordnungen seiner lange verstorbenen Gattin, und so lägen die Schlüssel nach wie vor im Haushalt dieses inzwischen steinalten Herrn.

Dessen Zuneigung zu seiner Frau habe nicht einmal die Tatsache Abbruch getan, dass die Tante R. sich mit der Anordnung bestatten ließ, nicht nur an der Seite ihrer Mutter zu ruhen, sondern dies auch ohne ihren Gatten zu tun, der sich bitteschön an anderer Stelle beerdigen lassen solle.

„Ist ja phänomenal.“, staune ich. „Und was erinnert deine Mutter an der Dame nun ganz genau an dich?“- „Trau ich mich nicht nachzufragen.“, beendet die J. ihre Erzählung und wenig später das Gespräch.


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