Donnerstag, 1. Dezember 2005

The Art of Smoking

Am Morgen spüre ich die Umrisse meiner Lunge, die laut und langgezogen pfeift, zeichne mit geschlossenen Augen mit dem Zeigefinger auf dem Brustkorb die Konturen der Lungenflügel nach und denke daran, für ein paar Tage die Aschenbecher wegzustellen und einfach keine Zigaretten mehr zu kaufen wie damals, 1999, schon gegen Ende des Studiums, als ich eines Morgens in die Küche kam, in der H. im kalten Rauch zwischen den Aschenbechern und den leeren Flaschen saß und ich fast ausgezogen wäre vor lauter Tristesse. „Willst du nicht wieder anfangen?“, fragte indes nicht nur der H. noch vor Ablauf der ersten Woche, und die Kollegen am Lehrstuhl, an dem ich als studentische Hilfskraft herumsaß, sehnten sich stündlich nach der Erlösung von meiner bombastisch miesen Laune. Auf dem Geburtstag der C.² saß ich wieder in ihrem Rattansessel, zog an einer Gauloises, und alles war umsonst gewesen.

Eine Gauloises war auch meine erste Zigarette gewesen, dreizehnjährig fast täglich zu Besuch bei der N., in deren Elternhaus einfach alles erlaubt war, und die Zigarettenschachteln der ungefähr fünf Erwachsenen für alle acht Kinder frei zugänglich einfach überall lagen, und der Liebhaber ihrer Mutter die N. und mich auf der Schaukel im Garten rauchend photographierte, um die Photos im Korridor seiner Praxis aufzuhängen.

Zu den Gauloises, den blauen mit Filter, sollte ich wieder zurückkehren für ein paar Jahre, irgendwann in der zweiten Hälfte der Neunziger, nach Experimenten mit Dunhill Menthol, deren Schachtel wunderschön war und aussah wie ein rechteckiges, flaches Fabergé-Ei, nach ein oder zwei Jahren mit Marlboro Lights in der weiß-goldenen Schachtel, die irgendwie sauber wirkten, und von denen man sich nicht hätte vorstellen können, dass sie in irgendeinem Zusammenhang standen mit dem Dunst aus kalter Asche und den Unisex-Parfums der Neunziger am nächsten Tag.

Im Gemeinschaftsbüro der Referendare war ich die einzige Raucherin, und rauchte den ganzen Tag. Schicksalsergeben saßen meine beiden nichtrauchenden Kollegen mir in einem Schleier aus grauen Schwaden gegenüber und liefen zweimal täglich ins Untergeschoss, um Nachschub zu holen, weil ich den Zigarettenhändler nicht ausstehen konnte. Alle Anwälte, stellte ich fest, rauchten die Gauloises in der roten Schachtel, und ich wechselte unverzüglich die Marke und rauchte jahrelang P&S in der mintgrünen, weichen Packung, in der die letzte Zigarette regelmäßig knickte und brach.

All die Rituale des Rauchens, die das Aufhören, wenn ich es denn wollte, erschweren würde: Die erste Zigarette im Morgenlicht auf dem Balkon. Die Nächte, verlangsamte, müde Gespräche mit dem Aschenbecher auf dem Bauch, und den Rauchwolken, die unter der Decke unscharf werden und verschwimmen. Die Zigarette an der Bar, die letzten Zigaretten auf dem Flughafen und all die Asche, deren Flocken am Morgen auf den Tischen liegen, war der letzte Abend lang.

Und am Ende nachts auf dem Balkon zu stehen und zuzusehen, wie sich der ganze Tag, die Unrast und die Müdigkeit in Rauch auflösen, und die Welt lautlos verbrennt.


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