Mittwoch, 19. April 2006

Wiedersehen

„Wir treffen uns morgen nachmittag. Ich hab‘ ihn 14 Jahre nicht gesehen.“, erzähle ich der C., und krame in meinem Gedächtnis nach irgendwelchen Details jener kurzen, drei oder vier Monate währenden Liebe, wie sie angefangen hat, und wie sie endete. „Warst du sehr verliebt in ihn?“, fragt die C., aber ich kann mich nicht erinnern. „Bestimmt.“, sage ich. „Schlank war er.“, erzähle ich. „Nervös und zappelig, ein exzellenter Schachspieler mit feinen Händen und schwarzem, struppigen Haar.“ – „Oh, die Sorte Mann beziehst du schon länger im Abo?“, lacht die C., und wir bestellen mehr Wein und ein paar Oliven.

Schlank ist er nach wie vor, auch seine Haare sind noch schwarz und struppig, aber kürzer, gezähmt, wie der ganze Mann, der im Café „LassunsFreundebleiben“ auf dem Sofa sitzt und aufsteht, als ich eintrete. „Hey. Schön, dich zu sehen.“, umarmen wir uns, als seien wir uns gar nicht fremd, und sprechen laut und viel über Berlin und München, über das Meer und den arg langen Winter dieses Jahr. Er ist Lehrer geworden, und ich nicke möglichst ernsthaft. Erdkunde und Geschichte unterrichte er an der Realschule, erzählt er, und ich überlege ein bißchen, was es über mich aussagen mag, dass der Beruf des Lehrers bei einem Mann stets ein wenig ridikül auf mich wirkt. „Was machst du?“, fragt er mich, als würde es ihn wirklich interessieren, und ich erzähle ein bißchen aus einer Welt, die ihm fremd erscheinen muss und vielleicht sogar ein wenig unsympathisch. Ein netter Fremder sitzt mir mit einer Tasse Milchkaffee in der Hand gegenüber, und ich suche in seinem Gesicht, in seinen Gesten, nach etwas Vertrautem, das doch da sein muss, denn einmal, da bin ich mir sicher, habe ich die scharfe, gerade Nase, die grauen Augen und die schlanken Hände geliebt.

Er sei mit seiner Freundin zusammengezogen, die auch Lehrerin sei, Sonderpädagogin an einer Schule für verhaltensauffällige Kinder, und zeigt mir ein Photo eines pausbackigen, netten Mädchens, blond und ein wenig rundlich, die freundlich und patent in die Kamera lacht. Ein bißchen langweilig, denke ich, „Nett schaut sie aus.“, sage ich, er nickt und erzählt vom Hauskauf in einem Vorort einer hessischen Stadt, in der ich nicht begraben sein möchte, von den Eltern seiner Freundin, die um die Ecke wohnen, und dem Glück, noch gerade so verbeamtet worden zu sein . „Schon sehr groß, Berlin.“, sagt er, und ich ärgere mich ein wenig über seine Biederkeit, als ginge es mich etwas an.

„Liest du noch so viel?“, fragt er, und ich nicke. Nicht mehr soviel wie mit 15 oder 16 freilich, als ich immerzu las, nachts, tagsüber, in der Schule, und, so fällt mir ein, wir stundenlang nebeneinander im Garten seiner oder meiner Eltern lagen, lasen und uns die schönsten Stellen vorlasen. Wir erzählen uns ein wenig über die Bücher, die wir gerade lesen, gelesen haben, lesen wollen, und kommen ein wenig an in der Gegenwart. Daniel Kehlmann, sagt er. Habe ich noch nicht gelesen, sage ich. Gerade wieder den Grand Meaulnes, immer wieder Schnitzler, er hat gerade Doderer gelesen, ich lese Huysmans, und die Vergangenheit rückt noch ein wenig weiter weg: Zwei seit Jahren erwachsene Leute sitzen in einem Café und sprechen angeregt über Bücher. Egal wird, dass ich so gut wie jeden gemeinsamen Moment vergessen habe, und er vielleicht auch, und als uns nichts mehr einfällt, was wir gelesen haben oder lesen wollen, stehen wir auf und zahlen.

Dann geht er, ein schlanker, noch dunkelhaariger Lehrer, in den gewiss jedes Jahr ein paar Schülerinnen heimlich verliebt sind, und keine schlechte Wahl getroffen haben werden, die ihnen peinlich sein müsste, wenn sie einmal erwachsen sind.

„Immer noch nett.“, erzähle ich der C. am Abend. Ein bißchen langweilig. Und so egal, so schrecklich egal, wie alles einmal gleichgültig sein wird, wenn es nur lange genug vergangen ist, und keine Rechnungen offen.



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