Montag, 4. September 2006

Auf meiner Lider Blaugesänge

Jetzt schlafen, denke ich und schließe die Augen für einen Moment. „Ihr Fahrausweis, bitte?“, reißt mich ein grell geschminktes Mädchen wieder hoch, und ich öffne blinzelnd meine Tasche. "Ich bin noch da.“, flüstert der Schlaf auf meiner Schulter, lässt die Beine baumeln und legt den Kopf sanft an meine Wange. – „Ich muss doch erst heim.“, wedele ich ihn weg, und er kichert leise, fast verschwörerisch und erzählt mir von allen meinen ungeträumten Träumen: Vom Meer, das in der Mitte der Nacht wie schwarzes Gold an die Klippen schlägt, von stinkenden, fleckigen Weiden, meinem eigenen, blaugeäderten Himmel und dem Frieden der nächtlich grasenden Stiere.

„Danke.“, sagt die Kontrolleurin zu mir und schwenkt ihren Kopf ein wenig kokett zur anderen Seite des Abteils, wo ein alter, schon ganz in sich zusammengekrochener Mann in seinen Taschen wühlt. – Vielleicht hat er vergessen, wo sein Fahrschein steckt, denke ich, aber die Augen fallen mir wieder zu. Der Schlaf setzt sich schwer auf meine Gedanken und zieht sie zu sich, wo sie sich auflösen, wenn seine Hand über ihren Rücken streicht. "Einen Moment bitte.", sagt der Alte, gräbt in den Hosentaschen und in einer Plastiktüte, während die Kontrolleurin abwechselnd mit dem rechten und dem linken Fuß ein wenig wippt. Schließlich schüttelt der alte Mann den Kopf.

„Dann kommen’se mal mit.“, fordert die Kontrolleurin den Alten auf, der immer wieder den Kopf schüttelt, als würde er seine Fahrscheinlosigkeit aus der Welt schaffen können, wenn er nur energisch genug bestreitet. - Nein, wehrt sein Kopf ab. „Ich komm‘ ja schon.“, antwortet er schließlich der Kontrolleurin, die ihn nochmals auffordert, unterbrochen von meinem Schlaf, der irre Geschichten über den Alten erzählt, grelle, bizarre Lieder über alles und nichts, bis die Bahn einfährt. Auf dem Bahnsteig bleibt der alte Mann mit der Kontrolleurin stehen, und ich laufe gemächlich die Treppe hoch und über die Ampel nach Hause, wo der Schlaf wiederum auf der Schwelle sitzt.

Da bist du ja endlich, gehe ich in die Knie, ihm den Kopf zu streicheln, ihn auf den Schoß zu nehmen und mit mir ins Bett. Schlafe bei mir, bitte ich ihn, und haste ihm nach, der immer ein, zwei Schritte vor mir über die Dielen springt, sich umschauend nach mir, als wolle er mit mir spielen.

Bleib stehen!, rufe ich ihm zu. Aber nun, kräht er, wolle er nichts mehr von mir wissen. Hektisch, gefleckt von hastiger, zuckender Betriebsamkeit, laufe ich hinter ihm hin und her, von der Küche ins Bad, vom Schlafzimmer an den Esstisch, aber der Schlaf, der Schlaf hat mich verlassen.



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