Dienstag, 10. Oktober 2006

Die fiktive Krankenschwester

Lügen, sagt man, hätten kurze Beine, womit der Volksmund in pointierter Form zum Ausdruck bringen will, dass früher oder später ohnehin jede auf Täuschung Dritter abzielende Unwahrheit auffliegt, was, wie wir alle wissen, aber maximal dann zutreffend sein dürfte, wenn man - wie ich - seine Ausreden ständig vergisst und zudem zu faul ist, die fiktive Seite seines Lebens einfach irgendwo aufzuschreiben. Man, und da liegt der Volksmund natürlich richtig, verplappert sich, verheddert sich in den straff gespannten Fallstricken zwischen Realität und Fiktion, man trifft gleichzeitig zwei Personen, die jede eine andere Version des Verlaufes irgendeiner Geschichte aufgebunden bekommen haben, von denen maximal eine stimmt, oder man - und dann wird es erfahrungsgemäß besonders schwierig - wird von dem Drang nach Wahrheit einfach übermannt.

Der Triumph der Wahrheit über die Lüge gilt gemeinhin als eine sehr moralische Sache, und darf wohl, hält man die Wahrheit für moralisch vorzugswürdig, selbst dann als überlegen gelten, wenn sie ihrerseits nicht originär moralischen Zwecken dient. Die K. etwa, eine Bekannte von Bekannten, treibt keineswegs die Wahrheitsliebe dazu, eine harmose Lüge gerade ziemlich zu bedauern, wenngleich doch immerhin die Liebe an sich die K. motiviert, allerdings nicht die Liebe zur Wahrheit, sondern schon eher die Liebe zu einem netten Herrn.

Diesen Herrn traf die K. vor einigen Wochen auf einer größeren Party, man unterhielt sich, die K. war übermütig gestimmt, trank viel zu viel Gin Tonic, und so verschwieg sie ihm kurzerhand ihren Beruf. Rechtsanwältin ist die K., und als Rechtsanwältin, wie niemand besser weiß als ich, hat man allen Grund zu seiner Profession möglichst zu schweigen, denn aus mir unbekannten Gründen empfinden Personen männlichen Geschlechts Rechtsanwältinnen als erotisch abstoßend. Krankenschwester sei sie von Beruf, behauptete deswegen die schon ziemlich angetrunkene K., und der nette Herr glaubte jedes Wort.

Man plauderte, man küsste sich sogar ein bißchen, man ging auseinander, und die vermeintliche Krankenschwester verbuchte den Abend als etwas hochstaplerisch, aber reizend, und hatte den Abend fast schon vergessen, als sie den netten Herrn wenig später ein zweites Mal traf. "Wie geht's im Krankenhaus?", fragte er sie, und sie musste einen Moment überlegen, bis ihr einfiel, dass sie ja Krankenschwester war.

Eine Richtigstellung war ihr gerade in bißchen peinlich, und so spann sie schnell irgendetwas zusammen, was ihrer Ansicht nach Krankenschwestern zu erzählen haben, und wechselte schnell das Thema. - Das Gespräch verlief ansonsten noch viel netter als das erste, man küsste sich wieder, man küsste sich weiter, und man verabredete sich für einen der nächsten Abende ganz gezielt.

Recht vielversprechend sieht es also eigentlich aus mit der K. und dem netten Herrn. Die Krankenschwester, die nicht existente Krankenschwester K., liegt der Rechtsanwältin K. allerdings nun schwer auf der Seele und die Wahrheit würgt in ihrem Hals. Denn was, so hat die K. allen Grund sich zu fragen, wird der nette Herr sagen, wenn er von der Täuschung erfährt? Wird mangelnde Wahrheitsliebe der K., allzu früh offenbart, ihn unverzüglich in die Flucht schlagen? Oder wird es das rechtsanwaltliche Berufsleben sein, was die weitere Bekanntschaft beenden wird? Oder empfiehlt es sich einfach, weiterzuschwindeln und Krankenschwester K. noch ein Weilchen am Leben zu lassen, bis die verkappte Rechtsanwältin K. dem Herrn so ans Herz gewachsen sein wird, dass er ihr die Täuschung verzeiht? Indes beschwindelt man doch ungern diejenigen, die einem lieb sind oder es gerade werden, und so ist die Situation der K. ganz insgesamt gerade keine besonders komfortable. Der Sieg der Wahrheit über die Lüge, so wünschenswert auch generell, erweist sich an der K. als individuell durchaus wenig angenehm, und so verdammt sich die K. gegenwärtig schrecklich für ihre anfängliche Schwindelei, was wiederum ja durchaus im Sinne derjenigen sein dürfte, welche zu moralischen Ansichten über Wahrheit und Lüge neigen, der Volksmund etwa, um noch einmal auf jenen zu sprechen zu kommen, der ja, wie bereits ausgeführt, ansonsten selten genug zu siegen weiß, und an der K. derzeit eines seiner raren Exempel statuiert.



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