Sonntag, 1. Juli 2007

Belehrung eines jungen Mädchens

Wer wird denn gleich von Verstellung sprechen, meine Liebe. Verstellung ist ein hartes Wort. Sprechen wir lieber von einer Art Höflichkeit, einer Konzession an die Menschen um Sie herum, und nicht zu vergessen: Auch an Sie selbst.

Sie möchten aber genau so sein, wie Sie sind? Lachen, wenn Ihnen etwas lustig erscheint, auch wenn sonst keiner lacht? Fluchen, wenn Sie sich ärgern, morgens einfach anziehen, was Ihnen gefällt, auch wenn das sonst keiner trägt? Einfach weggehen, wenn Sie sich langweilen, laut dazwischenfahren, wenn Sie finden, das müsse jetzt so sein?

Na, herzlichen Glückwunsch. Sie werden einigen Ärger haben mit sich selbst und dem Rest der Welt, und – lassen Sie es sich gesagt sein von einer Dame in in Ihren Augen durchaus mittleren Jahren – niemand wird dabei zu Schaden kommen als Sie.

Nehmen Sie beispielsweise den Schulunterricht. Lassen Sie es sich keinesfalls anmerken, etwas besser zu wissen als andere Leute. Sie kommen sonst – eins, zack, drei – in einen unmöglichen Ruf. Insbesondere Begeisterung sollten Sie gefälligst für sich behalten, bis Sie sorgfältig geprüft haben werden, ob das Ziel Ihres Enthusiasmus Außenstehenden auch nur halbwegs vermittelbar ist. Ich beispielsweise genieße bei denjenigen Leuten, mit denen ich einst den Leistungskurs Geschichte besucht habe, vermutlich bis heute einen leicht skurrilen Ruf, der vorwiegend auf eine als reichlich übersteigert empfundene Liebe zur alten Geschichte zurückzuführen ist. Eine vergleichbare Vorliebe für irgendeinen schönen Fernsehseriendarsteller oder eine Band dagegen wird Ihrem Ruf als reizendem Mädchen weitaus weniger schaden.

Sie wollen gar kein reizendes Mädchen sein? Sie wollen so gemocht, ach: geliebt, werden, wie Sie sind? Meine Liebe, niemand wird wegen jener Eigenschaften geliebt, die ihn von anderen unterscheiden. Mit den geistigen Eigenschaften ist es wie mit der Körperlichkeit: Je durchschnittlicher eine Person ist, je gemäßigter ihre Vorlieben und Abneigungen, um so eher darf sie hoffen, auf Anklang zu finden. Dem Begriff der Eigenheiten ist nicht umsonst ein etwas missbilligender Beiklang zu eigen, und alles, was nur Sie, und keine anderen Leute, tun oder denken, wird von jenen Menschen, von denen Sie geschätzt, eingeladen und vielleicht geliebt werden wollen, betrachtet werden wie eine allzu lange Nase, zu dicke Fesseln oder ein zu spitzes Kinn. Lernen Sie beizeiten, Extravaganzen zu meiden.

Lernen Sie lächeln. Jedem intelligenten Wesen fallen Torheiten auf. Nicht besonders intelligent ist es dagegen, sich dies auch anmerken zu lassen. Dummheit und geistige Inkonsequenz, Brutalität und Empfindungslosigkeit, fehlender Schönheitssinn und Banalitäten jeder Art werden nicht den Dummen und Banalen, sondern Ihnen schaden, wenn Sie sich anmerken lassen, dass Sie gelangweilt sind, vielleicht sogar abgestoßen.

Werden Sie unempfindlich. Das Heulen mit den Wölfen ist zu Unrecht in die Kritik geraten. Lernen Sie, Erziehungsmaximen zu hinterfragen: Opportunismus ist eine Kunst, die jedem zum Vorteil gereichen wird, dem man die Meisterschaft nicht anmerkt. Insbesondere aber dies: Schweigen Sie.

Legen Sie sich ein paar Themen zurecht, mit denen Sie Ihre Konversation bestreiten. Versuchen Sie nicht zu glänzen. Ich persönlich spreche meist über Handtaschen, Fluglinien und Bars. Nicht, dass mich diese Themen mehr interessierten als Cicero, das europäische Barock oder die Ontologie – indes verbringe ich meine Abende nicht gern allein, und die Anzahl insbesondere männlicher Menschen, die dies schätzen, ist gering, und wird nicht steigen in den nächsten Jahren. Machen Sie sich nichts vor: Auch jene Herren, die ihrerseits das Barock oder die Lyrik lieben, schätzen ein verständiges Schweigen höher denn einen fachlichen Austausch.

Vermeiden Sie insbesondere emotionale Extravaganzen. Weltschmerz, Düsterkeit, am Ende noch Gedichte schreiben, behalten Sie besser für sich. Das Tonio-Kröger-Syndrom, eine gewisse Portion jugendlicher Verfinsterung, wird nur dort augenzwinkernd gebilligt, wo es bei Knaben auftritt. Als Mädchen, meine Liebe, machen Sie sich höchstens lächerlich, und auch die verdüsterten Jünglinge, werden ihr Herz an muntere, lustig flatternde Geschöpfe verlieren und nicht an Sie. Für weibliches Freaktum bietet die Gesellschaft kein Rollenmodell.

Apropos Gesellschaft: Fangen Sie gar nicht erst an, über Staat und Gesellschaft nachzudenken. Sie werden zwangsläufig auf dunkle Ecken stoßen, Sie werden sich aufregen, denn die Welt ist voller Ungerechtigkeit, und am Ende wird weder die Welt etwas davon haben noch Sie. Beobachten Sie sich sorgfältig - vermeiden Sie die Berührung mit Themen, die Sie mehr als andere empören, denn Empörung ist als Zustand sowohl nutzlos als auch völlig unpassend und geht anderen Leuten zu recht auf den Geist. Aber ich will Sie nicht entmutigen: Haben Sie eine Meinung – aber vermeiden Sie übermäßiges Engagement. Lassen Sie es sich gesagt sein: Die einflussreichsten Menschen, die ich kenne, haben höchstens Spurenelemente feststehender Positionen, und Leute mit ausgeprägten Ansichten lässt zu recht keiner an die Macht.

Und am Ende nur dies: Amüsieren Sie sich. Denn das Leben ist kurz, und wer wären wir, urteilen zu können über andere oder auch nur über uns. Seien Sie angenehm, denn die Welt ist voll der Unannehmlichkeiten, und wo kämen wir denn hin, wenn kluge Menschen ihren Kopf nur um Unruhestiften benützen. Lächeln Sie, bis keiner mehr weiß, dass Sie über – und nicht mit – der Welt über ihre sonderbaren Sitten und Gebräuche das Gesicht verziehen. Und seien Sie nachsichtig. Mit sich und mit allen anderen, und insbesondere mit den Dingen, die Sie nicht ändern werden, weil sie sind, wie sie sind, und vielleicht ist das gut.



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