Samstag, 3. Januar 2009

De Mortuis ...

Man solle ein Gedicht vorstellen, hatte Frau H. aufgegeben, und eine ganze Woche hatte ich an meinem Referat gefeilt, war in die Bibliothek gefahren, hatte Lexika gewälzt und eine kluge Germanistin, Freundin meiner Mutter, angerufen, die ich meistens vermied, weil sie sich immer betrank und dann alle Kinder küsste. Am Schreibtisch meines Vaters, den ich nachmittags nutzte, weil ich mir erwachsener vorkam als in meinem Kinderzimmer, hatte ich gesessen und mir ausgemalt, wie mir die ganze Klasse applaudieren würde und alle den Dichter genauso lieben würden wie ich. Ich war dreizehn.

In der Nacht vor meinem Referat hatte ich kaum geschlafen. Vier oder fünf erste Sätze hatte ich mir überlegt und aufgeschrieben. Um fünf Uhr morgens war ich aufgestanden, hatte meinen Vater geweckt und vor ihm, der blinzelnd auf dem Rücken lag, den ganzen Vortrag noch einmal gehalten. Dann fuhr ich zur Schule.

So früh morgens waren die Flure noch leer und still. Im Klassenraum war es staubig, an der Tafel sah man Kreideschlieren vom vorigen Tag, und aus irgendeinem Pult roch es durchdringend nach saurem, alten Brot, das dort vergessen worden war und in der Wärme gärte. Die nächsten zwei Stunden kam keiner.

Als Frau H. kam, verschluckte ich mich fast vor Eifer. Ewigkeiten brauchte Frau H. für ihre Begrüßung. Noch länger blätterte sie im Klassenbuch. Dann setzte sie sich in die erste Reihe. Es ging los. Ich sprach. Ich sprach und sprach. Ich hörte nicht auf zu reden, gestikulierte, wurde lauter und leiser, und sprach immer weiter. Ich hörte auch nicht auf vorzutragen, als die Ersten unruhig wurden und leise lachten. Als in den hinteren Reihen geschwätzt wurde, sah ich hilfesuchend zur Frau H., aber die sah an mir vorbei aus dem Fenster, wo die Kastanien in voller Blüte standen, weiß und rosa und unverletzlich, als würde nicht die ganze Pracht zwei Wochen später auf dem Hof zertreten.

Als jemand eine Papierkugel nach mir warf, wich ich aus. Frau H. sah weiter an mir vorbei. „Frau H., jemand hat ...“, begann ich, auf einmal unsicher geworden. Frau H. drehte sich unwillig zu mir um. Ich fuhr fort. Von Frau H. sah ich wiederum nur den glatten, blonden Kopf. Frau H. sah auf den Hof.

Als die zweite Papierkugel flog, blickte Frau H. auf und fing an zu lächeln. Frau H. lächelte nicht nur, sie grinste, sie fing an laut zu lachen, und die ganze Klasse lachte mit. Sogar meine Freunde. Vor Scham und Verlegenheit lachte auch ich ein bisschen, und knüllte mein Referat in den Händen zusammen. Dann unterbrach mich Frau H. Sie hätte genug gehört, stand sie auf und setzte sich wieder an ihr Pult. Ich möge mich setzen. Ziemlich pubertär sei das alles, beschied mir Frau H. und reichlich überspannt. Das müsse ich mir abgewöhnen für die Zukunft. Langweilig sei mein Referat außerdem. Fast eingeschlafen sei sie, und allen anderen sei es genauso gegangen, und dann fragte Frau H. ausgerechnet meine Freunde, bis sogar die N. und die S. und der M. zugaben, mein Vortrag sei schlecht.

Wegelaufen bin ich, noch während der Stunde. Eine 3- habe ich bekommen, das war nicht so schlimm, aber Frau H. zog mich im ganzen nächsten Jahr gelegentlich auf mit dem misslungenen Vortrag. Was ich denn mal werde wolle, fragte sie irgendwann einfach so vor lauter Leuten aus dem Nichts. Als ich etwas vom Schreiben stotterte, lachte sie mich noch einmal aus. Mich sehe sie ja noch nicht einmal an der Uni, brüllte Frau H. vor Lachen. Dann ging sie in Mutterschutz und verschwand.

---

Ich weiß bis heute nicht, was Frau H. gegen mich hatte. Mein Vater hat sich bei Frau H. beschwert, aber es hat nichts genützt. Ich habe bei Frau H. keinen Schaden genommen, denn Kinder sind robust. Ich habe Frau H. gehasst, aber wen interessiert, ob man seine Deutschlehrerin mag oder nicht. Ich habe mir ausgemalt, manchmal in ganz besonders öden Schulstunden, wie Frau H. bei einem Unfall der Kopf abgerissen wird. Ich habe mir ausgemalt, wie ein Arzt ihr erzählt, sie habe Krebs. Ich bin noch vier, fünf Jahre später rot angelaufen vor Wut, wenn die Rede auf Frau H. kam, und als mein Vater mir erzählte, ein paar Wochen ist es her, Frau H. sei tot, nicht einmal fünfzig Jahre alt, sah ich mich stehen, dreizehnjährig vor der Tafel, und hatte nichts, nichts vergessen und vergeben, wie lächerlich auch immer das sei.



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