Mittwoch, 7. Januar 2009

Eis

So kalt, so zehenzerstörend eisig, so kalt, dass auch nach einer Viertelstunde in einem warmen Raum die Hände noch en bißchen schmerzen, war es zuletzt in dem Winter, als ich nach Berlin kam. In Friedrichshain wohnte ich damals, Hinterhaus und praktisch unbeheizbar. Es war den ganzen Tag dunkel in meiner Wohnung und Berlin generell, und jedes zweite Haus sah aus, als sei der zweite Weltkrieg gestern zuende gegangen.

Jeden Morgen verließ ich als wahrscheinlich einzige Hausbewohnerin die Wohnung, und jeden Morgen prosteten mir drei, vier heruntergekommene Männer um die vierzig mit roten Gesichtern und dicken, billigen Steppjacken zu. Doppelkorn und Bier. "Hey, Mädchen!", brüllten sie und boten unermüdlich, jeden Morgen wieder, Getränke an, während ich versuchte, auf dem Weg zur U-Bahn nicht auszurutschen. Gestreut wird in Berlin aus Prinzip nur ganz selten.

Nach einer Weile hasste ich die Männer. Ich hasste ihre alkoholischen Atemwolken, ihre bunten Jacken, ihre roten Gesichter mit den aufgesprungenen Adern. Ihre Hunde hasste ich sowieso. Abends amüsierte ich Menschen, die ich kenne, mit langen Ausführungen über allzu exzessiv vergebene Sozialleistungen, die es Leuten erlauben, den ganzen Tag am Kiosk zu trinken und Passanten Bier und Korn anzubieten. Am Morgen fühlte ich mich manchmal wie Margaret Thatcher. Bevor es schlimmer wurde, zog ich weg.

Hier, wo ich jetzt wohne, seit mehr als fünf Jahren, gibt es keine Leute mehr, die Bier und Korn trinken. Wer sich hier betrinkt, wählt mit Sorgfalt. Wer hier verzweifelt, bleibt zuhause, und sogar der Kiosk um die Ecke führt Biomarmelade und dunkle Schokoladen mit Salz. Schön ist es hier, und weg will ich so schnell nicht. Doch wenn es kalt wird, wenn der Schnee auf den Gehwegen gefriert und buckelig wird, wenn die Füße in den Stiefeln blau werden und dick, wenn die Hände schmerzen: Wenn es wirklich Winter ist in Berlin, dann frage ich mich, was aus den Männern am Kiosk wohl geworden sein mag. Ob sie noch leben. Und ob es ihnen gutgeht, mit Bier und Korn und in billigen Jacken. In Friedrichshain oder wo auch immer.



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