Man wird ja noch mal sagen dürfen.
Sie. Ja, Sie an Ihrem häuslichen Rechner. Ich möchte Sie kennenlernen, denn über Leute wie Sie weiß ich bisher nichts.
Gelegentlich begegne ich Ihnen beim Zeitunglesen im Netz, aber bis heute weiß ich nicht einmal, wie man Sie anspricht. Sagt man "Liebe Forennutzer"? Oder ist "sehr geehrte Damen und Herren Kommentatoren" besser? - "Hallo miteinander" erscheint mir etwas informell, denn so, wie Sie sich in den Foren und Kommentarsträngen zu vorwiegend politischen Artikeln etwa bei Spiegel Online, bei faz.net, sueddeutsche.de oder zeit.de äußern, scheinen Sie sich meistens so ernst zu nehmen, dass ein lässig dahingegrüßtes Winken Ihrem Geltungsanspruch möglicherweise nicht gerecht werden wird. Vielleicht sind Sie dann beleidigt. Beleidigt sind Sie - verzeihen Sie mir den Einwurf - schließlich ziemlich oft.
Ich will nicht ungerecht sein, aber der Anteil derer unter Ihnen, die sich von der Welt und der Politik beständig schlecht behandelt oder auf bisweilen diffuse Art und Weise geringgeschätzt, für dumm verkauft oder nicht ernst genommen fühlt, erscheint mir verhältnismäßig hoch. Ich teile diese Empfindung, meine Interessen würden nicht gehört, zum Beispiel nur sehr selten, aber diese Ansicht über die Einrichtung der Welt gilt Ihnen, ich habe es gelesen, entweder als naiv oder ich gehöre in Ihren Augen möglicherweise auch zu denen, die dieses Land zu ihrem Vorteil unter sich aufgeteilt haben. Die Meinung, es gebe eine Art Verschwörung wahlweise von naiven "Gutmenschen" oder von "denen da oben", die an der Mehrheitsgesellschaft vorbei Klientelinteressen bedienen, scheint unter Ihnen deutlich verbreiteter zu sein als unter Menschen, mit denen ich am Tisch sitze und Meinungen austausche, wenn mir einmal danach ist.
Überhaupt Meinungen. Ein schwieriges Thema. Ich bin mir, was die eigene Meinung angeht, oft nicht so sicher, welche Mechanismen Wirtschaft, Politik oder Gesellschaft bewegen. Was rechts unten passiert, wenn man links oben an einer Strippe zieht, ist für mich oft überraschend. Ich habe mich da auch schon nicht selten geirrt. Zum einen verstehe ich nicht so arg viel von Volkswirtschaft oder Soziologie. Zum anderen ist mein Horizont ein ziemlich spezieller. Ich kenne einen eher engen Ausschnitt der Gesellschaft. Das bringt die Großstadt so mit sich; bei meinen Eltern in einem kleinen Nest von 10.000 Einwohnern ist das noch deutlich anders. Wären alle Menschen so, wie die, die mich umgeben, wäre jeder so ungefähr 35, hätten die Grünen Stimmanteile von 85%, weniger als 25% der Bevölkerung hätte ein Auto, dafür 95% einen geistes- oder gesellschaftswissenschaftlichen Abschluss und gute 75% Wohnungen am Prenzlauer Berg. Es mag deswegen sein, dass die Gesellschaft auf irgendwelche Maßnahmen oder Änderungen völlig anders reagiert, als ich es annehme. Dass das die Belastbarkeit meiner Einschätzungen beeinträchtigt, versteht sich von selbst.
Sie dagegen sind, wie ich Ihren Postings entnehme, von der Allgemeingültigkeit Ihrer Weltsicht oft auf frappierende Weise überzeugt. Andere Ansichten sind deswegen in Ihren Augen meistens keine Anregung, wie man die Welt sonst noch so betrachten kann, sondern schlichtweg falsch. Temperamentvollere Gemüter unter Ihnen sehen angesichts falscher Ansichten dann jedesmal gleich das Abendland in Gefahr. Sie sehen, wenn ich Sie richtig interpretiere, in Diskussionen nicht eine ziemlich gute Methode, die vielen gesellschaftlichen Handlungsoptionen daraufhin abzuklopfen, ob sie einerseits funktionieren und andererseits von tragfähigen Mehrheiten unterstützt werden. Sie gehen stattdessen vielfach davon aus, es gebe einen richtigen Weg zu einer guten Gesellschaft, und wer diesen nicht vertrete, sei entweder böswillig oder dumm.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, wenn Sie Entscheidungsträger in Politik oder Wirtschaft geringschätzen. Wer denkt schon gut über böse oder dämliche Personen. Was ich aber doch gern einmal von Ihnen wüsste: Glauben Sie wirklich, das alles ginge anders? Politik könnte einfach so Ihre persönliche Weltsicht vollstrecken, durchregieren, umsetzen, was Ihnen richtig erscheint? Und halten Sie Ihre Ansicht wirklich für so verbreitet, wie es bisweilen scheint? Sie identifizieren sich ja in verblüffendem Maße mit einer angeblich schweigenden Mehrheit. Woher wollen Sie das eigentlich wissen? Halten Sie es nicht für möglich, dass es Ihnen am Ende geht wie mir: Sie leben umgeben von Personen, die Ihnen vom Herkommen, vom Habitus, von den Lebensumständen und von der Weltsicht stark ähneln und verwechseln ihre persönliche Wahrnehmung mit der Realität einer komplexen Bevölkerung von 80 Mio. Menschen.
Wie diese Lebensumstände aber so aussehen, in denen Sie sich befinden, dass frage ich mich bisweilen dann doch. Ich kenne keine Leute, die mir spontan in den Kopf kommen, wenn ich lese, wie Sie sich austauschen. Oder kenne ich sie doch, aber Sie verschweigen mir Ihre Ansichten, wenn Sie mir gegenüberstehen, weil sie annehmen, dass ich diese nicht teile? Halte ich jedes Gegenüber für einen weltklug-humorvollen Liberalen, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass es Leute gibt, die ich nett finde, die aber Weltsichten hegen, die ich unverständlich finde, ein wenig engherzig oder gar verächtlich? Oder leben Sie tatsächlich woanders, in kleinen Städten irgendwo am Land vielleicht oder in Spandau, Köpenick oder Wilmersdorf und ich treffe Sie deswegen nie? Sind Sie vielleicht deutlich älter als ich, vielleicht ein gelangweilter Rentner? Ich kenne quasi niemanden über 50, vielleicht liegt es daran. Ich stelle Sie mir meistens männlich vor, aber vielleicht stimmt das gar nicht? Sind die männlichen Namen, die Sie bei der FAZ angeben, vielleicht Pseudonyme und in Wirklichkeit heißt mancher Gerd Gertrud, Manuela oder Kerstin?
Aber werden wir konkret: Sind Sie verheiratet? Wann waren Sie das letzte Mal verliebt? Sehen Sie gut aus? Ich trage heute Jeans von G-Star, Chucks, ein Top von Zara und einen Cardigan vom Comptoir des Cottoniers. Was haben Sie denn so an? Haben Sie dieses Jahr schon für etwas demonstriert? Wie viel geben Sie pro Jahr für andere Menschen aus? Überhaupt Geld: Sind Sie mit Ihrem Einkommen zufrieden? Ist Ihnen Geld wichtig? Wären Sie als Unternehmer lieber Steve Jobs oder Ferdinand Piëch? Als Schriftsteller lieber Clemens Meyer, Daniel Kehlmann oder Frank Schätzing? Wer würde Sie in einem Biopic angemessen darstellen? Glauben Sie an Gott?
Ich weiß nichts über Sie. Ich würde gern wissen, wer Sie sind.
(Ich glaube, ich werde Sie nicht mögen.)