Dienstag, 5. April 2011

Romantik als Symptom

An sich bin ich ziemlich patent. Ich laufe herum, ich belle in Telephonhörer, ich kann in 15 Minuten vier Paar Schuhe, ein Kleid und zwei Oberteile aussuchen, bezahlen und das Geschäft wieder verlassen. Ich kann einen Empfang für zehn oder hundert Leute organisieren, ich kann Papiere schreiben, die andere Leute ernst nehmen oder zumindest so tun, und an guten Tagen kann ich viel größere Tiere als mich dazu bringen, durch brennende Reifen zu springen. Ich habe das Windmachen gelernt. Ich bin ziemlich effizient und ein klein wenig nüchtern.

Anders sieht es nur aus, wenn ich krank bin. Wenn ich zum Beispiel am Montag morgen in einem Taxi sitze, ich fahre durch Berlin, und dann schießt auf einmal eine fremde Frau zwischen zwei parkenden Autos hervor, das Taxi bremst, meine Handtasche fliegt durch den Innenraum, und mein Kopf einmal heftig nach hinten und nach vorn, dann hat es sich mit mir und meiner handfesten Normalperson. Zumindest, wenn ich am nächsten Morgen ernsthafte Sorgen habe, mein Kopf bricht demnächst mal ab, lege ich mich erst für zehn Stunden zum Schlafen ins Bett (zumindest nachdem mir ein Arzt gesagt hat, es sei nichts kaputt), und dann verfalle ich in meinen "Krankes-Mädchen-Modus".

Auf meinen Füßen liegt dann meine Katze. Ich dämmere erst ein paar Stunden so vor mich hin, bemitleide mich, schwanke alle paar Stunden ins Bad, und irgendwann versuche ich etwas zu essen. Wenn es mir nicht gut geht, esse ich nur weiche, breiige Speisen, selbst wenn ich gar nichts am Magen habe. Grieß ist gut. Milchreis noch besser. Auch so eine Pampe aus Weißbrot, heißer Milch und Zucker ist nicht übel. Dazu gibt es süßen Tee mit Milch und Kandis.

Auch literarisch - wenn es denn wieder geht - soll es weich und breiig sein. Jetzt Thomas Bernhard ginge gar nicht. Überhaupt, Lesen ist es gerade nicht so. Vielleicht ein Film. Null Tote, keine Gemetzel, Hitler darf auf keinen Fall vorkommen. Ein Merchant/Ivory Film, so etwas. Jenseits von Afrika. Sex and the City, und dann Szenen, die ich besonders romantisch finde, zweimal schauen. Ich will niemals heiraten, weil ich die Ehe aus grundsätzlichen Erwägungen ablehne, aber ich habe heute zweimal Miranda in Staffel 6 dabei zugesehen, wie sie Steve einen Heiratsantrag macht. Wäre ich nicht so müde, ich würde Pride and Prejudice einwerfen und Colin Firth bewundern.

Sobald es mir schlecht geht, platzt meine Alltagsperson von mir ab und ich überlege, wieso für mich eigentlich nie einer singt. Gut, ich würde möglicherweise lachen - aber woher will die Welt das wissen, wenn es keiner versucht? Wieso wäscht mir eigentlich niemand die Haare? Nur weil nicht einmal ich selbst in der Lage bin, mir vernünftig die Haare zu waschen, ohne dass es richtig wehtut? Wie würde ich - nur so rein theoretisch - eigentlich in einem Brautkleid aussehen?

Einige Stunden später geht es dann wieder. Die Brautkleid-Idee habe ich verworfen, weil Brautkleider ohne Eheschließung keine sehr sinnvollen Investitionen darstellen. Langsam fange ich an, die Bildschirmküsse zu zählen und kritisch zu bewerten. Zwei vollbefriedigend. Einmal ausreichend. Durchgefallen.

Etwas Scharfes zum Essen wäre es jetzt auch ganz gut, nach dem ganzen süßen Brei. Vorsichtig, schließlich schmerzt mein Nacken nach wie vor, schaue ich in den Kühlschrank und nehme mir ein Stück Käse. Dann lese ich nach, was man mir auf meinen Blackberry schickt. Bei Mails, die mir besonders wenig gefallen, fletsche ich ein bißchen die Zähne.

"Geht schon wieder ganz gut.", maile ich und versuche, den Kopf nicht zu drehen. Morgen geht es wieder los, sage ich zur Katze. Übel ist mir nicht mehr. Schwindelig wird mir nur noch, wenn ich aufstehe, und auch die anderen Symptome sind vorbei. Vorbei.

Am Hafen

Dann aber die Schelde. Die gut gekleideten Passanten, besser angezogen, als man in Berlin zu sehen bekommt. Das Licht, wie es jeden Quadratzentimeter der Haut ausleuchtet. Ich selbst in den Scheiben der Geschäfte, bleich, sonderbar aufgequollen wie etwas, das lange im Wasser gelegen hat, und blinzelnd in der gleißenden Sonne.

Ich bin doch noch gar nicht so weit, sage ich mir und schaue mir zu beim Gang durch Antwerpen. In mir ist noch Winter. Irgendwo hinter den Schläfen tickt es hastig und hohl. Ein Metronom vielleicht. Mag sein auch ein Kerl mit einem stählernen Hammer, und irgendwo brechen krachend Schollen aus Eis.

Vielleicht auch nur eiserne Bänder.



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