Dienstag, 30. Dezember 2008

2008 revisited

Zugenommen oder abgenommen? Drastisch zugenommen. 3 Kilo. Und das bei meiner Größe. Je nach Tagesform nun stets schwankend zwischen dem Vorsatz, nie wieder etwas zu essen, und der Annahme, mit 33 sei das nun auch egal.

In diesem Zusammenhang: Hat hier jemand Erfahrung mit Weight Watchers online?

Haare länger oder kürzer? Gegen Ende des Sommers trotz mehrfacher Versuche einmal keinen Termin beim Ponyclub bekommen und dann woanders angerufen. Fast 70 Euro fürs Haareschneiden in Mitte bezahlt, vor Scham und Trauer über das Ergebnis fast gestorben und dann monatelang nur noch mit hochgesteckten Haaren vor die Tür gegangen.

Nachdem die Haare nachgewachsen waren, wieder nach Friedrichshain, wo Superfriseur Manuel zwischen zwei leicht angewidert abgespreizten Fingern die herausgewachsene Katastrophe begutachtete und seither versucht, zu retten, was zu retten ist.

Mehr Kohle oder weniger? Mehr.

Mehr ausgegeben oder weniger? Mehr.

Der hirnrissigste Plan? Pfingsten mit dem J. nach Heiligendamm. Das ganze, an sich sehr nette Hotel ist gesteckt voller Kleinfamilien aus Hamburg und Berlin mit ausnehmend schönen Müttern, die Wellness-Wochenenden mit der ganzen Familie offenbar massenhaft zum Muttertag geschenkt bekommen.

Alle Frauen sind dünner, gepflegter und blonder als ich. Alle Kinder sind sehr, sehr laut. Zwei Tage extrem schlechter Laune.

Die gefährlichste Unternehmung? Mit dem J. ohne Navigationshilfe auf Kreta Auto fahren.

Mehr Sport oder weniger? Nichts. Irgendwo müssen die drei Kilo ja her kommen. Morgens und abends mit dem Fahrrad ins Büro. Ansonsten fiele es gar nicht auf, fielen mir morgen die Beine ab.

Die teuerste Anschaffung? Zwei Fahrräder, diebstahlsbedingt. Und noch eine Komplettreparatur vor zwei Wochen, nachdem mir das neue Rad unter den Linden von irgendsoeinem Kretin auseinandergeschraubt worden ist: Ein neues Vorderrad. Ein neuer Sattel. Die komplette Lichtanlage. Und ein bisschen Kleinkram.

Das leckerste Essen? Oh. Das war nicht wenig. (Irgendwo müssen die drei ...) Vielleicht die Törtchen in der Werkstatt der Süße (bitte durchs Sortiment klicken!), die es fast verschmerzen lassen, dass der skandinavische Laden dichtgemacht hat, der da vorher war? Oder ganz rustikal Blutwurst mit Äpfeln und Zwiebeln? Möglicherweise im Hartmanns, wo es mir besser schmeckt als in vielen höher dekorierten Läden?

Das beeindruckendste Buch? Kein Jahr der reichen Beute, so literarisch. An Neuerscheinungen fällt mir nur des formidablen Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ein. Eine surreale, vollkommen mit schwarzen, ausgebrannten Träumen ausgeschlagene Reise in die Unterwelt, die – dies beiseite – werkimmanent zu steigern kaum mehr möglich erscheint: Christian Krachts drei Romane handeln alle von Reisen, doch wo in Faserland noch eine – zugegeben subjektiv gespiegelte – Bundesrepublik bereist wird, steht in 1979 nurmehr ein medial-mythologisch überformtes Setting zur Verfügung, das mit dem realen Persien rein gar nichts zu tun hat, und in dem neuesten Buch gibt es nur noch Traumfetzen, eine kalte, filigrane, sehr, sehr perfekte Agonie.

Ansonsten aus dem Vorjahr – bei mir kommt ja alles immer leicht verspätet an: Thomas Glavinic. Das bin doch ich. Sehr amüsant, ein Buch wie ein Baiser. Das richtige für eine fette Grippe. Vom selben Stapel, aber aus diesem Jahr: Adam Soboczynski, Die schonende Abwehr verliebter Frauen, eine lose verbundene Reihe kurzer, in der Manier eines Ratgebers scheinbar illustrativ angeführter hintergründiger Geschichten über den richtigen Gebrauch der Lüge, und älter, aber gut Nicolaus Sombart, Journal Intime, und Doderers Strudlhofstiege, die ich vor Jahren angefangen, aber erst jetzt fertiggelesen habe.

Das enttäuschendste Buch? Jonathan Littell. Die Wohlgesinnten. Und natürlich Uwe Tellkamp.

Der ergreifendste Film? Waltz with Bashir. Am meisten gelacht, wenn auch dem Genre entsprechend nicht im engeren Sinne ergriffen: Burn After Reading.

Die beste CD? Ich habe einen guten Freund, den M., welcher einmal in einer Kanzlei angestellt war. Als diese umzog und auch die Mitarbeiter angeben sollten, was sie gern an den neuen, noch kahlen Wänden sehen würden (Kunst, wie sich versteht), antwortete der M. auf die Frage nach seinen diesbezüglichen Vorlieben mit den legendären Worten: „Mich dürfen sie nicht fragen, ich hab’ keinen Geschmack.“

So ähnlich geht’s mir mit Musik ...

Die meiste Zeit verbracht mit…? Kollegen.

Die schönste Zeit verbracht mit… ? Freunden.

Vorherrschendes Gefühl 2008? Eine Zwischenzeit zu durchleben. Abgeflogen zu sein, und nicht zu wissen, wo und wann die Landung stattfindet.

2008 zum ersten Mal getan? Einen Makler beauftragt, mir eine Wohnung zu vermitteln.

2008 nach langer Zeit wieder getan? Ein Musical besucht. Vor inzwischen zwei Jahrzehnten, als meine Großmutter noch lebte, habe ich sie öfter in die Operette begleitet. Die lustige Witwe. Der Vetter aus Dingsda. Im Weißen Rössl. Da war auch das eine oder andere Musical dabei. An die West Side Story erinnere ich mich. Seither habe ich diese Kunstform 20 Jahre gemieden. Wie ich in der Komischen Oper feststellen musste: Offenbar zu Unrecht. Kiss me Kate war bezaubernd.

3 Dinge, auf die ich gut hätte verzichten mögen? Drei Kilo mehr, siehe oben.

Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte? Nicht einfach, seinen Doktorvater davon abzubringen, aus einer ordentlichen Diss eine viel, viel bessere Diss zu machen und zu diesem Zweck noch ein weiteres Jährchen dranzuhängen.

Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe? Zeit.

Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat? Zeit.

Der folgenreichste Satz, den jemand zu mir gesagt hat? „Sie bekommen das schon hin.“

Der folgenreichste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe? „Aber klar.“

2008 war mit 1 Wort…? In Ordnung.

Vorsätze für 2009? Reiterferien. Vielleicht am Meer, mal sehen. Schreiben, hier und anderswo, egal, ob das, was dabei rauskommt, etwas taugt. Glücklich sein. Sich und sein Leben bewohnen und nicht nur dabeisein. Intensität, wenn es das gibt. Tja, und drei Kilo abnehmen

(Via Frau Wortschnittchen und Frau Kaltmamsell)

Montag, 29. Dezember 2008

Bobby Fischer

Am 25. Dezember mache ich die Spülmaschine an, und die Spülmaschine macht merkwürdige Geräusche. Irgendetwas schabt, und das Geschirr bleibt schmutzig. Am 26. Dezember versuche ich es noch mal. Das Ergebnis überzeugt mich nicht: Meine Teller sind nach wie vor nicht sauber, das Besteck schimmelt inzwischen, und der Geschirrspültab liegt unaufgelöst im Sieb. Diese Maschine, soviel ist klar, ist kaputt. Am 29. Dezember rufe ich beim Wartungsdienst an. Man werde, verspricht man, bis sechs jemanden schicken.

Um zehn vor sechs klingelt es an der Tür. „Vierter Stock“, posaune ich in die heftig knackende Gegensprechanlage und bleibe in der Wohnungstür stehen. „Wir haben auch einen Fahrstuhl!“, rufe ich, als ich Treppensteigen höre. „Schon da, schon da.“, keucht es von unten. Dann erscheint - gütiger Gott! - Bobby Fischer. Der Schachweltmeister von 1972 steht selbst, höchstpersönlich und unverkennbar in der Tür. Ich bin überwältigt.

„Sind sie es wirklich?“, verkneife ich mir mühsam, denn hier – das ist mir sofort klar – soll ein Inkognito gewahrt werden. Ganz schön mutig, denke ich, einfach so in einer Monteursjacke durch Berlin zu laufen. Nicht einmal den Bart hat er abgelegt. Auch der leicht irre Blick belegt die Identität mit dem offenbar keineswegs in Island am Nierenleiden Verstorbenen.

Keuchend, schließlich ist Fischer auch nicht mehr der Jüngste, macht sich der Schachmeister an der Maschine zu schaffen. Es sei der Spülkasten, höre ich. Mit irgendwelchen Geräten werkelt Fischer im Inneren meines Haushaltsgeräts herum. 200 Euro, höre ich, koste die Reparatur. Dann taucht Fischer wieder auf. Ob er ein Glas Wasser ....? Aber klar. Ich fülle einen Becher. - „Spielen Sie Schach?“, frage ich nun doch so harmlos wie möglich. Fischer, so meine ich, schaut durchaus ein wenig irritiert. „Früher mehr als heute.“, antwortet er aber tatsächlich. Er scheint sich sehr sicher zu fühlen, schießt es mir durch den Kopf. Nun, denke ich. Vielleicht doch besser nicht bohren. Paranoiker können manchmal unberechenbar sein. Fischer hantiert weiter, diesmal an den Schaltern. Die Elektronik, sagt er, sei okay.

Die Reparatur mache quasi keine Arbeit. Drei Tage würde ich warten müssen, maximal. „Das weden sie schon schaffen!", wird Fischer jovial, zwinkert tatsächlich ein bißchen und hält mir die Auftragsbestätigung hin. "Sie müssen hier unterschreiben.“, deutet er auf eine punktierte Linie. Neben meiner Unterschrift unterschreibt, etwas umständlich, Fischer selbst. Ein unleserlicher Schnörkel. - „Wie heißen sie?“, frage ich, starre auf den Zettel und lächele. Fischer schaut auf, öffnet verlegen ein paar Mal die Spülmaschine, schließt sie wieder und sagt sehr schnell etwas, was Neumann heißen könnte. Oder so ähnlich.

Das müssen sie sich doch vorher überlegt haben, liegt es mir auf der Zunge. Nun, denke ich. Vielleicht ist Fischer noch nicht arg lange hier? Möglicherweise ist dies der erste Auftritt nach dem geheimen Umzug nach Berlin? Oder Fischer ist schon monatelang in der Stadt, hat Hunderte von Spülmaschinen repariert, aber es hat noch nie jemand gefragt? Oder er hat sein Inkognito zwischenzeitlich vergessen?

„Ich fahr’ dann mal.“, beeilt er sich auf einmal, loszukommen. Die Maschine nimmt er mit. Man werde mich anrufen, wenn die Reparatur abgeschlossen sei, teilt er mir zum weiteren Procedere mit und verabschiedet sich mit einem herzhaften "Tschüssikowski."

Sonntag, 28. Dezember 2008

Über Regierung

Christoph Möllers, Demokratie - Zumutungen und Versprechen, Wagenbach 2008, € 9,90

Es gibt ein vielfach verbreitetes Unbehagen an der Art und Weise, wie politische Entscheidungen in der Bundesrepublik getroffen werden. Oft steht hinter diesen Äußerungen die Vorstellung, es gebe eine „richtige“ Politik, die es nur zu erkennen (statt erst zu gestalten) gelte, und die bisweilen verschlungenen Wege demokratischer Willensbildung würden diesen Erkenntnisprozess eher behindern als fördern. In einer solchen Weltsicht erscheint dann weniger der manchmal fast unendliche Diskussionsprozess parlamentarischer Abläufe wünschenswert, sondern eine Art autoritäres Expertentum, das – beamtet oder bestellt – aus der Vielzahl denkbarer Handlungsalternativen die beste aussucht und verwirklicht. Ausfluss dieser sehr verbreiteten Ansicht ist neben dem bisweilen etwas hypertrophen Selbstbewusstsein der Ministerialbürokratie etwa das Kommissionsunwesen, das seit der Regierung Schröder die politische Willensbildung verschmiert.

Tatsächlich gibt es wenig Hinweise darauf, dass eine Expertenrepublik zu „besserer“ Politik führen würde, als der parlamentarische Betrieb. Wer dies annimmt, verkennt, dass es bei der Frage, wie regiert werden soll, grundlegende Vorfragen gibt, die nicht durch Sachkunde, sondern nur durch politische Entscheidungen getroffen werden können: Sollen die Belange der Tierschützer verwirklicht werden oder doch eher die der finanzschwachen Fleischesser mit ihrem Interesse an Schweinskoteletts zu € 2,99? Sind Arbeitsplätze in der Schwerindustrie wichtiger als der Schutz seltener, aber gutaussehender Kröten? Sollen die öffentlichen Schulen optimal auf die Bedürfnisse schwacher Schüler eingehen oder sollten die begrenzten Finanzen des Staates für die Spitzenförderung ausnehmend schlauer Kinder verwandt werden? Und wenn das Geld nicht reicht: Soll man Ausgaben kürzen, auch wenn die Gelder für an und für sich wünschenswerte Ziele ausgegeben werden sollen, oder sollen Steuern erhöht werden, und wenn ja: für wen? - Dass diese Fragen zu entscheiden nicht Sache von Experten sein kann, liegt an sich auf der Hand, denn niemand ist Experte für die Frage, welche Ziele eine Gesellschaft verfolgen soll, sondern höchstens dafür, wie man die einmal beschlossenen Ziele erreicht.

Bedauerlicherweise gibt es wenig lesbare Literatur, die das vorerwähnte Unbehagen thematisiert und auf seinen undemokratischen Kern hin untersucht. Eine Vielzahl politischer Bücher beschäftigt sich diesbezüglich mit Einzelfragen, und macht sich dabei den Wunsch mancher Bürger wie auch anderer Akteure nach einer Art Abschaffung der Politik nicht selten sogar zunutze. Manche andere, sicherlich verdienstvollen Werke scheitern an ihrer schlechten Verständlichkeit, zumal kaum jemand, dessen Beruf es nicht ist, derlei zu lesen, fette und anstrengende Wälzer schätzt, die man schon wegen ihres Umfangs weder in der Bahn noch im Bett konsumieren möchte.

Um so lieber empfiehlt man Ausnahmen wie das keine 150 Seiten lange Werk des Staatsrechtlers Christoph Möllers über Demokratie, in dem der Autor ebenso präzise wie temperamentvoll den Überdruss an demokratischer Politik von seiner narzisstischen Quelle bis ins Meer der unhinterfragten Fehlschlüsse nachzeichnet. Die leichte Lesbarkeit auch aufgrund der Rhythmisierung durch kurze, im Schnitt eine halbe Seite nicht überschreitende Abschnitte kommt dem faulen Leser zudem sehr entgegen.

Samstag, 27. Dezember 2008

Allein in Berlin

Am letzten Wochenende vor Weihnachten wandert Berlin aus. Koffer werden verstaut und Tüten in den Hohlräumen zwischen Klappkisten verkeilt. Auf den Bürgersteigen im Prenzlauer Berg stehen Bugaboos neben übervollen Reisetaschen und kleinen Kindern mit Plüschhasen im Arm. Papa kommt gleich, piepst ein Mädchen mit Schottenrock mir zu. Bestimmt, sage ich, und laufe weiter.

Dann ist Berlin leer. Im Haus gegenüber brennt am Abend kein einziges Licht. Die Parkplätze sind leer. Das Lassunsfreundebleiben hat dicht. Das Schwarzsauer ist zu, und außer mir fährt im Haus niemand Fahrstuhl oder läuft über die Treppen. Am Morgen schreit kein einziges Kind. So leise ist Weihnachten, dass man selbst ganz leise wird, weil alles, was man tut, krachend die Stille durchbricht.

Als sei mit den Autos auch die Schnelligkeit verschwunden, verlangsamen die Passanten ihren Schritt, bleiben lange, lange einfach so auf der Straße stehen und sehen sich um. Wie Verschwörer, wie Kinder, die in der großen Pause einfach im Klassenraum geblieben sind, lächeln sich die vier, fünf Fußgänger auf der Kastanienallee an.

Am 24. dann Wein und Besuch. Am 25. auswärts. Am 26. aber bleibe ich einfach im Bett, streichele den Kater auf dem Nachttisch. Trinke Tee. Bade. Lese ein paar Lieblingspassagen in Büchern, die man jedes Jahr, ach: monatlich lesen sollte, weil sie so perfekt sind, dass man weinen könnte. Höre vom Bett aus den J. nebenan leise rascheln, Tasten drücken, Stühle rücken, auf der Gitarre spielen und sage mir, das sei das Glück: Weihnachten. Und allein in Berlin.

Freitag, 26. Dezember 2008

Vom Wetterleuchten der Vergeblichkeit

Deutsches Theater in der Volksbühne, 23.12.2008

Irgendwann, so gegen Ende, wurde das 19. Jahrhundert seiner selbst sterbensmüde. Der soziale, technische oder medizinische Fortschritt hatte mehr Sicherheit mit sich gebracht, weniger Menschen waren gezwungen, den ganzen Tag an nichts anderes als an ihr Überleben zu denken, aber statt dass die Menschen glücklicher wurden, wurde ihnen nur langweilig.

Vielleicht war die Langeweile in einer Hinsicht sogar noch unangenehmer als die Angst und die Unsicherheit, denn ein Kranker oder Hungriger kann meist sehr genau sagen, was passieren muss, damit sich sein Leben verbessert. Ein kluger Gelangweilter jedoch weiß meist ganz genau, dass nichts, was geschehen könnte, die Langeweile beendet. Er ist am Ende aller Hoffnung angekommen. Der Hoffnungslose aber hat wenig Grund, weiterzuleben, und so ist der Schuß durch den eigenen Kopf am Ende von Tschechovs Möwe wohl nicht Ausdruck eines pathologischen, aber temporären Aufregungszustandes Kostjas, sondern dass, was man gemeinhin als einen Bilanzsuizid bezeichnet: Die Selbsttötung als rationale Konsequenz des unabänderlichen Scheiterns.

Dass Kostja als ein am Ende erfolgreicher Künstler verzweifelt und stirbt, gehört zu den genialen Zügen der Möwe, die der Autor als Komödie bezeichnet hat, obwohl im gesteckt vollen Raum der Volksbühne (das Deutsche Theater wird gerade renoviert) keiner lacht. Überhaupt sind die Erfolgreichen ebenso hoffnungslose Fälle wie die, denen Zufall wie Schicksal den Erfolg nicht vor die Füße gelegt haben. Die Arkadina ist nicht glücklicher als die erfolglose Schauspielerin Nina, ihr Bruder Sorin, dem am Ende seines Lebens nichts bleibt als unerfüllte Wünsche, nicht mehr zu bedauern als Sohn Kostja, dem der Erfolg nicht hilft, und das echte Liebeselend der Mascha nicht schwärzer als die ambivalente, monochrome Langeweile, in der der Arzt Dorn ebenso einhertreibt wie der Schriftsteller Trigorin, der Nina – so ahnt man – nicht aus Begehren, gar aus Liebe ruiniert, sondern einfach so, wie Kinder an einem sonnigen Sonntagnachmittag im Garten eine Libelle oder einen grünschillernden Käfer fangen, quälen und sterbend liegenlassen.

Dankenswerter Weise hat Regisseur Jürgen Gosch darauf verzichtet, die träge, sommerwarme, unbewegliche Luft der Möwe auszutauschen gegen die elektrische Atmosphäre, die das Berliner Theater oft auch ohne Ansehung des Stücks vorzieht. Umso greller wirken die kleinen Entladungen, die Versuche der Kontaktaufnahme zwischen den Protagonisten, und besonders laut gellt die an sich nicht aus dem Rahmen der Bühne (insbesondere der Volksbühne) fallende Szene, in der Corinna Harfouchs Arkadina Trigorin zu sich zurückholt, als er sie wegen Nina verlassen will. Zuletzt wird, aber das zu sehen erspart uns Tschechow, die alte Schauspielerin die junge nicht nur im Theater, sondern auch in der Liebe besiegen.

Den Untergang der Nina spielt Kathleen Morgeneyer als eine Klimax der Intensität. Unhübsch, fragil, ganz Gefühl und Nerven, fällt im Laufe der mehr als drei Stunden dieses Abends jede komische oder rührende Arabeske von ihr ab, bis in der letzten Szene nurmehr der blanke Schmerz auf der Bühne steht. Jirka Zett kann da nicht mithalten, allzu blond wirkt sein Kostja an Leib und Seele, und auch Alexander Khuon als Trigorin macht es den Zuschauern durchaus schwer nachzuvollziehen, was gleich zwei Frauen an ihm finden, aber vielleicht macht es sich Gosch auch nur ein wenig leicht mit diesem ein wenig kanaillesken Routinier der Kunst, derweilen er ihm die Nachsicht versagt, die aus Tschechovs todtraurigem Stück von der Vergeblichkeit des menschlichen Lebens, von der Tödlichkeit der Langeweile dann doch eine Komödie macht, denn was wäre eine Komödie anderes als eine Geschichte von der Unüberwindlichkeit der Differenz zwischen Sein und Sollen, die ihre Komik aus dem Umstand bezieht, dass es den Ort gar nicht gibt, nach dem alle suchen, den goldenen Zustand jenseits der Ausweglosigkeit der Langeweile, es sei denn im Moment der letzten Pointe: Dem Schuß.



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