Samstag, 10. Januar 2009

Der Herrlichste von Allen

Einfach liegenbleiben und die Augen geschlossen halten, als sei die Nacht nicht vorbei. Auf dem Rücken liegen, die Beine anziehen und mit den Händen über die Beckenknochen fahren und sich vorstellen, noch einmal 50 Kilo zu wiegen, und wie toll das wäre und wozu und was der J. wohl dazu sagen würde. Immer wieder ein bißchen schlafen.

Für Sekunden träumen (Haut, Himmel und Meer), erwachen und wieder versinken. Die gleißende Helle des Schlafs. Sich halbblind in die Küche tasten. Eiskaltes Wasser und Tee, die Rückkehr ins Bett, und Lotte Lehmann singen lassen von dem Herrlichsten von Allen. 1928 in Berlin.

Mittwoch, 7. Januar 2009

Eis

So kalt, so zehenzerstörend eisig, so kalt, dass auch nach einer Viertelstunde in einem warmen Raum die Hände noch en bißchen schmerzen, war es zuletzt in dem Winter, als ich nach Berlin kam. In Friedrichshain wohnte ich damals, Hinterhaus und praktisch unbeheizbar. Es war den ganzen Tag dunkel in meiner Wohnung und Berlin generell, und jedes zweite Haus sah aus, als sei der zweite Weltkrieg gestern zuende gegangen.

Jeden Morgen verließ ich als wahrscheinlich einzige Hausbewohnerin die Wohnung, und jeden Morgen prosteten mir drei, vier heruntergekommene Männer um die vierzig mit roten Gesichtern und dicken, billigen Steppjacken zu. Doppelkorn und Bier. "Hey, Mädchen!", brüllten sie und boten unermüdlich, jeden Morgen wieder, Getränke an, während ich versuchte, auf dem Weg zur U-Bahn nicht auszurutschen. Gestreut wird in Berlin aus Prinzip nur ganz selten.

Nach einer Weile hasste ich die Männer. Ich hasste ihre alkoholischen Atemwolken, ihre bunten Jacken, ihre roten Gesichter mit den aufgesprungenen Adern. Ihre Hunde hasste ich sowieso. Abends amüsierte ich Menschen, die ich kenne, mit langen Ausführungen über allzu exzessiv vergebene Sozialleistungen, die es Leuten erlauben, den ganzen Tag am Kiosk zu trinken und Passanten Bier und Korn anzubieten. Am Morgen fühlte ich mich manchmal wie Margaret Thatcher. Bevor es schlimmer wurde, zog ich weg.

Hier, wo ich jetzt wohne, seit mehr als fünf Jahren, gibt es keine Leute mehr, die Bier und Korn trinken. Wer sich hier betrinkt, wählt mit Sorgfalt. Wer hier verzweifelt, bleibt zuhause, und sogar der Kiosk um die Ecke führt Biomarmelade und dunkle Schokoladen mit Salz. Schön ist es hier, und weg will ich so schnell nicht. Doch wenn es kalt wird, wenn der Schnee auf den Gehwegen gefriert und buckelig wird, wenn die Füße in den Stiefeln blau werden und dick, wenn die Hände schmerzen: Wenn es wirklich Winter ist in Berlin, dann frage ich mich, was aus den Männern am Kiosk wohl geworden sein mag. Ob sie noch leben. Und ob es ihnen gutgeht, mit Bier und Korn und in billigen Jacken. In Friedrichshain oder wo auch immer.

Sonntag, 4. Januar 2009

Countdown

Der J. trödelt. Der J. sucht in der ganzen Wohnung nach seinen Schuhen, verwirft die schwarzen mit der Ledersohle aus Witterungsgründen, hält zwei andere Paare prüfend nebeneinander, und bindet mit aller Gemächlichkeit schließlich das ausgewählte Paar zu. Eingepackt in eine Barbourjacke mit Fell, eine rote Pashmina und warmen Stiefeln stehe ich an der Tür. Die Handschuhe habe ich schon wieder ausgezogen. Es ist 18.35.

Auf der Schwedter Straße ist kein Vorankommen. Unruhig rutsche ich auf dem buckelig-vereisten Bürgersteig hin und her. Zwanzig Meter hinter mir, seelenruhig mit den Händen in den Taschen, spaziert der J. zur U-Bahn. Wir hätten doch noch 35 Minuten, wehrt der geschätzte Gefährte jede Eile ab.

„Ja, eben!“, bemühe ich mich, nicht hier an Ort und Stelle auf der Ecke zur Schönhauser zu explodieren. Es gelingt eher mäßig. Um 19.15, halte ich ihm vor, seien wir vorm Haus der Berliner Festspiele verabredet, welches sich bekanntlich am anderen Ende der Welt befindet. Außerdem haben wir die Karten, auch für die J. und die C.

Um 18.41 verpassen wir die Bahn. 19.17 wären wir mit dieser Bahn – inklusive Umsteigen – am Bahnhof Spichernstraße gewesen, das geht nun nicht mehr, und deswegen steigen wir am Alex aus. Es ist 18.55. So schnell es geht, laufe ich über den Platz, an Kaufhof vorbei, im Slalom um Passanten herum, die in hellen Heerscharen einfach so auf dem Alexanderplatz herumstehen. Aufreizend gemütlich schlendert der J. hinterher. Vor der S-Bahn warten die Taxen.

Um 19.02 fährt das Taxi los. Es werde knapp, teilt der Fahrer mit, denn am Potsdamer Platz demonstrieren irgendwelche Leute gegen das israelische Vorgehen im Gazastreifen. „Das ist mir egal! Wir haben es eilig!“, rufe ich aus, und der Fahrer fährt ein wenig zusammen. „Zentrale – hat sich die Demo am Postdamer Platz aufgelöst?“, fragt er über Funk an. Gott sei Dank. Die Demo ist vorbei. Der J. sieht mich strafend an. Diese verfluchten Ausbrüche, kann ich es ganz deutlich auf seiner Stirn geschrieben sehen.

Als wir im Foyer stehen, ist keiner da. Es ist 19.18, weder die J. noch die C. warten, und dass die C. auch nicht in allernächster Zukunft eintreffen werde, teilt sie per SMS mit. Sie brauche noch zehn Minuten. Inzwischen ist wenigstens die J. erschienen. Außer uns ist ganz Westberlin da. Der Altersschnitt liegt deutlich über vierzig. Das Foyer ist voll und vor den Garderoben drängeln sich ältere Herren mit den Mänteln ihrer Frau.

Es läutet. Die C. ist noch nicht da. Um 19.29 gebe ich ihre Karte am Einlass ab. Um 19.30 geht der Gong zum zweiten Mal. Um 19.31 rauscht die C., ohne den Einlass auch nur eines Blickes zu würdigen, durch die Tür. Mit offenen Mündern stehen die Einlasswärter und sehen der C. nach. Kreidebleich – sie muss gerannt sein – lehnt die C. an der Holzvertäfelung und japst ihre Anginaviren in die warme Luft. Den Mantel behält sie an.

Hinter uns schließt sich die Tür und parallel zum Erscheinen der Schauspieler drücken wir uns unter halblauten Entschuldigungen durch die Reihe. Tut mir leid, flüstere ich ungefähr sechs- bis siebenmal. Dann geht es los. Ullrich Matthes spricht. Und ja – der Onkel Wanja ist tatsächlich so grandios, wie alle sagen.

Samstag, 3. Januar 2009

De Mortuis ...

Man solle ein Gedicht vorstellen, hatte Frau H. aufgegeben, und eine ganze Woche hatte ich an meinem Referat gefeilt, war in die Bibliothek gefahren, hatte Lexika gewälzt und eine kluge Germanistin, Freundin meiner Mutter, angerufen, die ich meistens vermied, weil sie sich immer betrank und dann alle Kinder küsste. Am Schreibtisch meines Vaters, den ich nachmittags nutzte, weil ich mir erwachsener vorkam als in meinem Kinderzimmer, hatte ich gesessen und mir ausgemalt, wie mir die ganze Klasse applaudieren würde und alle den Dichter genauso lieben würden wie ich. Ich war dreizehn.

In der Nacht vor meinem Referat hatte ich kaum geschlafen. Vier oder fünf erste Sätze hatte ich mir überlegt und aufgeschrieben. Um fünf Uhr morgens war ich aufgestanden, hatte meinen Vater geweckt und vor ihm, der blinzelnd auf dem Rücken lag, den ganzen Vortrag noch einmal gehalten. Dann fuhr ich zur Schule.

So früh morgens waren die Flure noch leer und still. Im Klassenraum war es staubig, an der Tafel sah man Kreideschlieren vom vorigen Tag, und aus irgendeinem Pult roch es durchdringend nach saurem, alten Brot, das dort vergessen worden war und in der Wärme gärte. Die nächsten zwei Stunden kam keiner.

Als Frau H. kam, verschluckte ich mich fast vor Eifer. Ewigkeiten brauchte Frau H. für ihre Begrüßung. Noch länger blätterte sie im Klassenbuch. Dann setzte sie sich in die erste Reihe. Es ging los. Ich sprach. Ich sprach und sprach. Ich hörte nicht auf zu reden, gestikulierte, wurde lauter und leiser, und sprach immer weiter. Ich hörte auch nicht auf vorzutragen, als die Ersten unruhig wurden und leise lachten. Als in den hinteren Reihen geschwätzt wurde, sah ich hilfesuchend zur Frau H., aber die sah an mir vorbei aus dem Fenster, wo die Kastanien in voller Blüte standen, weiß und rosa und unverletzlich, als würde nicht die ganze Pracht zwei Wochen später auf dem Hof zertreten.

Als jemand eine Papierkugel nach mir warf, wich ich aus. Frau H. sah weiter an mir vorbei. „Frau H., jemand hat ...“, begann ich, auf einmal unsicher geworden. Frau H. drehte sich unwillig zu mir um. Ich fuhr fort. Von Frau H. sah ich wiederum nur den glatten, blonden Kopf. Frau H. sah auf den Hof.

Als die zweite Papierkugel flog, blickte Frau H. auf und fing an zu lächeln. Frau H. lächelte nicht nur, sie grinste, sie fing an laut zu lachen, und die ganze Klasse lachte mit. Sogar meine Freunde. Vor Scham und Verlegenheit lachte auch ich ein bisschen, und knüllte mein Referat in den Händen zusammen. Dann unterbrach mich Frau H. Sie hätte genug gehört, stand sie auf und setzte sich wieder an ihr Pult. Ich möge mich setzen. Ziemlich pubertär sei das alles, beschied mir Frau H. und reichlich überspannt. Das müsse ich mir abgewöhnen für die Zukunft. Langweilig sei mein Referat außerdem. Fast eingeschlafen sei sie, und allen anderen sei es genauso gegangen, und dann fragte Frau H. ausgerechnet meine Freunde, bis sogar die N. und die S. und der M. zugaben, mein Vortrag sei schlecht.

Wegelaufen bin ich, noch während der Stunde. Eine 3- habe ich bekommen, das war nicht so schlimm, aber Frau H. zog mich im ganzen nächsten Jahr gelegentlich auf mit dem misslungenen Vortrag. Was ich denn mal werde wolle, fragte sie irgendwann einfach so vor lauter Leuten aus dem Nichts. Als ich etwas vom Schreiben stotterte, lachte sie mich noch einmal aus. Mich sehe sie ja noch nicht einmal an der Uni, brüllte Frau H. vor Lachen. Dann ging sie in Mutterschutz und verschwand.

---

Ich weiß bis heute nicht, was Frau H. gegen mich hatte. Mein Vater hat sich bei Frau H. beschwert, aber es hat nichts genützt. Ich habe bei Frau H. keinen Schaden genommen, denn Kinder sind robust. Ich habe Frau H. gehasst, aber wen interessiert, ob man seine Deutschlehrerin mag oder nicht. Ich habe mir ausgemalt, manchmal in ganz besonders öden Schulstunden, wie Frau H. bei einem Unfall der Kopf abgerissen wird. Ich habe mir ausgemalt, wie ein Arzt ihr erzählt, sie habe Krebs. Ich bin noch vier, fünf Jahre später rot angelaufen vor Wut, wenn die Rede auf Frau H. kam, und als mein Vater mir erzählte, ein paar Wochen ist es her, Frau H. sei tot, nicht einmal fünfzig Jahre alt, sah ich mich stehen, dreizehnjährig vor der Tafel, und hatte nichts, nichts vergessen und vergeben, wie lächerlich auch immer das sei.

Donnerstag, 1. Januar 2009

Erwartung

Bevor der Abend losgeht zu Fuß die Schönhauser Allee abwärts und in der Volksbühne auf weißen Plastikstühlen sitzen. „Das ist sonst immer auf der großen Bühne.“, sagt am Ende das Mädchen am Ausgang, als wir mittendrin gehen, weil man die Schauspieler weder sieht noch hört. Macht doch nichts, behaupten wir und laufen zurück, die Schwedter Straße hoch und sitzen ein, zwei Stunden bis es weitergeht, allein im Visite ma tente, trinken viel zu viel Crémant, erzählen uns kichernd Geschichten über andere Leute und uns selbst und prosten uns lachend zu auf die Jahre, die schon waren und noch kommen, lassen uns hochleben, als stünde das Beste noch bevor, und als warte die Stadt, die Nacht, dieses Leben mit Kelch und Fanfaren und wehenden Fahnen nur auf uns, und ganz besonders im kommenden Jahr.



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