Dienstag, 22. September 2009

Um acht

Noch vor Anbruch des Tages grundlos gutgelaunt auf dem Balkon zu stehen, den Nachbarn zuzusehen, wie sie ihre Kinder wickeln und der Katze seine Träume zu erzählen. Der große, schwarze Hund. Der Schlamm und die Ebene und die Lichter irgendwo sehr weit weg.

Die Müllmänner ziehen die Container durch den Hinterhof und winken mir zu. In der Küche röchelt Kaffee, weil ich als letzter Mensch auf Erden morgens gern Filterkaffee trinke. Eine Scheibe Weißbrot mit Butter und Gelee im gelben, weich strömendem Licht. Die verblühenden Blumen auf dem Tisch. Im Bad der Duft nach Lavendel, von irgendwo halb verweht Verkehrsmeldungen und für eine letzte Minute auf dem Balkon dem September zusehen: An die Wand gelehnt, träge noch vor Wärme, eine Tüte mit Äpfeln und Feigen im Arm und lächelnd wie die bemoosten, zerfallenen Götter in fernen, schattigen Gärten.

Sonntag, 20. September 2009

In der Manege

Rigoletto, Komische Oper am 20.09.2009

Es glitzert. Auf der Bühne der Komischen Oper blitzt es aber nicht wie Juwelen oder Ordenssterne, sondern wie die Phantasieuniformen eines Zirkus: Barrie Kosky hat den Hof von Mantua in eine Zirkusmanege verlegt, in der der Herzog (gesanglich schwach: Hector Sandoval) Damen zersägt, wo Clowns herumlaufen, unter einem großen, schwarzen, glitzernden Tuch Personen erscheinen und verschwinden, und wo Rigoletto, der Narr, als Komödiant unter Komödianten seine Witze reißt und die vom Herzog verführten Damen ebenso herzlos verspottet, wie man ihn selbst verspotten wird, wenn im zweiten Akt seine Tochter Gilda trotz aller Vorsichtsmaßnahmen dem Herzog zum Opfer zum Opfer fällt.

Schön gesungen wird auf der Bühne unter den Linden. Besonders Bruno Caproni als Rigoletto und ganz besonders (ach!) Julia Novikova als Gilda singen großartig, aber trotz vereinzelt hübscher Bilder rührt die Inszenierung mich nicht an. Nun mag dies einerseits daran liegen, dass sowohl eine verlorene Jungfräulichkeit als auch ein mutwillig gebrochenes Herz uns heute gewiss als ein Ärgernis erscheinen mögen, als ein Grund für Trost und Tränen, aber nicht als eine Lebenskatastrophe, und erst recht nicht als eine Katastrophe, die mit unseren Eltern irgendetwas zu tun hätte: Betrügt uns der eine, nun, so wird es ein anderer vielleicht wieder gut machen.

Glauben wir aber nicht mehr an die Irreversibilität des Herzbruchs, so verliert Rigoletto viel von seiner emotional zwingenden Logik, und das tut einem Stück selten gut. Indes ist diese letztlich unüberbrückbare Distanz gegenüber der Gefühlswelt vergangener Zeiten nur ein Teil der Wahrheit, und ein anderer liegt in der Zirkuswelt, die Kosky entfaltet: Ist alles, was auf der Bühne geschieht, ohnehin nur Teil einer Show, so gibt es keinen Grund, den Ernst, den die Musik vielfach transportiert, auch ernst zu nehmen. Ein travestiertes Drama ist keins. Dass - abgesehen von Allgemeinplätzen, wie sie für jede Opernhandlung gelten - keinerlei innerer Zusammenhang zwischen Oper und Inszenierung erkennbar ist, hat die Zurückhaltung des Publikums beim Applaus für die Regie sicher ebenfalls befördert, das - ebenfalls im Einklang mit meinem persönlichen Empfinden - Bruno Caproni und Julia Novikova bejubelt und Hector Sandoval kräftig ausgebuht hat.

Die neuen Stühle und die Textanzeige auf der Rückseite des jeweiligen Vordersitzes immerhin sind ganz und gar zu begrüßen.

Freitag, 18. September 2009

Verkäufer

Eine Berliner Klage

1. Der Übereifrige mit Eigensinn

Vor mir steht die Speerspitze der Dienstleistungsgesellschaft und hält mir ein Paar Schuhe entgegen. "Nimm mal die da.", befiehlt er. Ich zögere. Die angebotenen Schuhe sind türkis, vorn rund und mit einem Budapester Lochmuster verziert. Ich habe nichts gegen Budapester, solange sie an Männerfüßen stecken, aber bevor ich in türkisfarbenen Budapestern mit einem klobigen Absatz auf die Straße gehe, bleibe ich barfuß zu Haus.

Ich schüttele den Kopf. Der Übereifrige ist beleidigt. "Ich stell dir die Schuhe mal hier hin.", deutet er auf seinen Kassentisch. Ich sehe mich um. Ein Paar schwarze Pumps sind zu flach. Ein anderes Paar hat weiße Nähte, die mir nicht gefallen. Ich verabschiede mich.

"Ich lege dir die Schuhe bis Dienstag zurück!", ruft mir der Übereifrige hinterher.

2. Die Unfähige

"Ich mach' hier nur Aushilfe!", schickt die Frau an der Metzgertheke vorweg. Sie ist hübsch, blond, würde sie erzählen, eigentlich dem Schauspiel oder der Kunst zu obliegen: Ich wäre nicht überrascht. "Das bekommen wir hin.", sage ich so freundlich wie möglich, denn die Verkäuferin scheint nervös zu sein. Ich will sie beruhigen.

Eine halbe Minute später wird sie noch nervöser. "500 Gramm vom Rinderschmorfleisch.", ordere ich, und ganz offensichtlich wird ihr in diesem Moment erstmals klar, dass ein Rind aus unterschiedlichen Stücken besteht. Hilflos betrachtet sie abwechselnd den Rost- und den Lungenbraten, die Nuss und das Ausgelöste aus der Keule. "Von dem da?", fragt sie mich irgendwann und deutet auf ein beliebiges Stück Fleisch. Immerhin hat sie das Rind erkannt, denke ich, und verneine. "Das hinter dem Gulasch.", deute ich auf das Stück, das ich haben will. Die Verkäuferin bekommt hektische Flecken.

Immerhin gelingt es ihr einigermaßen fehlerfrei, ungefähr ein Pfund abzuschneiden. "Bis du so nett ...", fragt sie mich, "mir den Preis anzusagen?" - "€ 12,80", antworte ich brav (denn niemand soll nur wegen Unfähigkeit Nachteile erleiden). Dann verlasse ich den Biomarkt. Das Mädchen wird es schwer haben in den nächsten Tagen und Wochen.

3. Die Preussische


Wer in Berlin lebt, und die S-Bahn nicht hasst, kommt ohne weitere Untersuchung wegen schweren Realitätsverlusts in die Psychiatrie. Wer wegen der S-Bahn mit der Regionalbahn aus Potsdam zurückgekommen ist, hasst nicht nur die S-Bahn, sondern die Stadt, ihre Einwohner generell und speziell jeden der tausend anderen Menschen, die auch mit der Regionalbahn gefahren sind. Wer dann noch einkaufen geht und feststellen muss, dass der fertig gezogene Strudelteig aus dem Kühlregal heute aus ist, hat ohnehin schon unsagbar schlechte Laune, und wer dann mit abgesehen vom Strudelteig gefülltem Korb an der Kasse auftaucht, will garantiert nicht hören, wie die dauergewellte Megäre, der das Kassieren obliegt, schon beim Glas mit Essigzwetschgen kritisch schaut, um dann ein simples Glas Tessiner Senffrüchte mit den Worten über den Scanner zu ziehen:

"Sie leben ja auch wie die Made im Speck."

Donnerstag, 17. September 2009

Die Lautlosigkeitsmaschine

Als sich im Anna Blume die Mixer drehen und jedes Wort zerhäckseln, fällt mir die Maschine wieder ein.

Maximal mittelgroß müsste sie sein, damit man sie stets dabeihaben könnte. Vielleicht könnte man die Maschine sogar mit dem Telephon kombinieren, das eine Extrataste für Stille haben sollte, vielleicht eine kleine Raute am Rand. Ähnlich wie ein schalldämpfender Teppich sollte die Maschine Geräusche verschlucken. Still würde die Welt, drückte jemand die Maschine, und wer anderen etwas mitzuteilen hat, könnte das nur noch schriftlich tun. Um sehr wichtige und angemessene Konversation nicht zu unterbinden, könnte man (als Vorschlag zur Güte) vielleicht auch das menschliche Wort abweichend von allen anderen, komplett zu eliminierenden Geräuschen nur auf ein leises Flüstern und Zirpen dämpfen. Weil sich "Sie Hornochse" oder so gewispert gar nicht so gut macht, würden Gespräche auch viel weniger aggressiv.

Endlich hätten die meisten Menschen ausgeschlafen. Die Geschlechterbeziehungen würden unendlich profitieren, hörten die meisten Menschen endlich mit den Versuchen auf, sich einander verständlich zu machen. Im Berufsleben würde eine drastische Verkürzung der Arbeitszeiten aus dem Wegfall endloser Meetings resultieren. Statt dessen schrieben Kollegen sich kurze, präzise E-Mails. Auch die Tierhaltung würde weniger strapaziös. Eine gemischte Bebauung auch in urbanen Siedlungsräumen würde reibungsloser und frei von Störungen fast jedweder Art. Die Wirtschaft würde gleichfalls proftieren von dem Boom der Lautlosigkeitsmaschinen, die sich sicher auch als echter Exporthit erweisen würde, und wer die Vorteile der Lautlosigkeit dauerhaft genießen wollen würde, würde sich zum wirtschaftlichen Vorteil der Mediziner auf eigene Kosten die Trommelfelle entfernen lassen.

Falls man es sich anders überlegt, kann man jene ja für den späteren Gebrauch irgendwo aufbewahren lassen.

Dienstag, 15. September 2009

Daheim

Dann aber am Morgen viel zu früh aufwachen, Kaffee trinken und Wäsche waschen und noch vor zehn am Wasserturm sitzen. Das gelbe Licht des Herbstes. Eine Schulklasse mit kopierten, zerknitterten Plänen. Das langsam fließende Leben der Stadt, die Ruhe ohne Sturm, und sich so zu Hause fühlen, wie es nur der Heimkehrer tut.



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