Samstag, 25. Dezember 2010

Froh und munter (I)

Jedes Jahr ungefähr zu Allerseelen beginnt die Dame, die meine Schwiegermutter wäre, wären der J. und ich verheiratet, ausdrucksvoll zu schweigen: Sie fragt nicht, was mit Weihnachten ist, sie spricht nicht über Weihnachten, sie erwähnt anstehende Feiertage mit keiner Silbe, denn sie will den J. auf keinen Fall unter Druck setzen, Weihnachten nach Hause zu kommen. Der J. soll vollkommen freiwillig den ICE nach Hannover besteigen, um sich unter dem mütterlichen Tannenbaum verwöhnen zu lassen.

Der J. aber denkt gar nicht daran, eine Woche lang an den mütterlichen Butterfässern zu sitzen. Der J. fährt das ganze Jahr, Krawatte um den Hals und Pilotenkoffer in der Hand, durch die Lande, der J. möchte Weihnachten auf dem Sofa liegen, und zwar umgeben von engen, handverlesenen Freunden auf dem eigenen Sofa im Prenzlauer Berg und nicht in einem Dorf bei Hannover, wo alle zwanzig Minuten jemand fragt, ob es auch warm genug ist, ob der J. etwas trinken möchte, ob er vielleicht Hunger hat, und ob es nicht schön ist, so zusammen zu sitzen. Die Frage nach dem Hunger ist ganz besonders rhetorisch, denn alle zwei Stunden gibt es unheuerliche Mengen zu essen, die zu verschmähen als konkludente persönliche Beleidigung gilt. Die ängstliche Frage, ob das Zusammentreffen nicht ganz besonders schön sei, darf auf keinen Fall wahrheitsgemäß beantwortet werden.

Jedes Jahr ungefähr zu Christkönig hält es die Mutter des J. dann doch nicht mehr aus. Zart, so subtil wie möglich, lässt sie anklingen, sie wolle den J. Weihnachten sehen. Möglicherweise berichtet sie etwas zu nachdrücklich von der Nachbarin, die zehn Tage lang bei ihrer Tochter in München weilen werde, oder sie fragt nach, was meine Eltern Weihnachten machen. Meine Eltern - das weiß die Mutter des J. genau - fahren Weihnachten meistens weg, oft monatelang.

Irgendwann in der Adventszeit gibt die Mutter des J. sich dann einen Stoß. Wie es denn aussieht, fragt sie dann, und bevorzugt fragt sie mich. Die Anspannung bricht ihr aus jeder Pore, ich verfluche den Umstand, dass der J. keine Geschwister hat, die sich die Betreuung der Eltern zu Feiertagen teilen könnten und rede mich raus. Mir sei alles egal, sage ich, auch wenn das nicht stimmt. Der J. sei zuständig, gebe ich zu Protokoll, und lächele übeaus freundlich, weil es nicht schön sein kann, wenn sich die Verdachtsmomente häufen, der eigene Sohn umgebe sich Weihnachten lieber mit seiner Berliner Ersatzfamilie. Die Idee, dass der J. sich deutlich wohler fühlen würde, wenn seine Mutter Weihnachten mit mehr Gelassenheit und weniger Mahlzeiten angehen würde, leuchtet der guten Frau irgendwie nicht ein.

Schließlich bricht der J. ein und lädt seine Mutter zum Stephanstag ein. Seine Mutter ist ein bißchen geknickt, weil sie sich extensivere Zusammenkünfte vorgestellt hat, ich bin ein wenig ärgerlich, weil ich mir eigentlich überhaupt keine Zusammenkünfte vorgestellt habe, und um jede weitere Quelle der Anspanung auszuschließen, reserviere ich einen Tisch in einem Restaurant. Wenn dann das Essen nicht schmeckt, ist wenigstens keiner schuld.

Dass zwischen Realität und Ideal eine Lücke klafft, verdeutlicht die Mutter des J. in den nächsten Wochen telephonisch. So teilt sie mit, keinen Weinachtsbaum zu kaufen. Das lohne sich nicht, denn man sei ja ganz allein. "Aber ihr seid doch zu zweit!", bricht es dann aus mir heraus. Schließlich haben auch wir als ein kinderloses Paar uns einen Weihnachtsbaum erworben. Das sei etwas anderes, schallt es aus dem Hörer. Na dann, denke ich mir und lege auf. Auch eine Gans solle es nicht geben, höre ich, sondern irgendetwas aus dem Römertopf. "Aber wir kommen ja am 2. Weihnachtsfeiertag zu euch und sehen dann den schönen Baum!", zwitschert die Mutter des J. und läd das Zusammentreffen mit Erwartung auf.

Morgen früh werden die Eltern des J. nun erwartet. Wir haben einen Tisch bestellt. Die circa acht Stunden zwischen Ankunft und Essen hat man sich lang vorzustellen, sehr lang, eine bei genauer Betrachtung sozusagen der Ewigkeit nicht vollkommen unvergleichliche Spanne.

Mittwoch, 15. Dezember 2010

August

Sommer, denke ich und schiebe mich frierend durch die enge Straßenbahn zum Automaten. Heiß muss es sein. Auf dem schmelzenden Asphalt soll die Hitze liegen wie eine feuchte, warme Decke. Sandalen will ich tragen und ein kurzes, rotes Kleid. Der Fahrtwind auf dem Rad soll sich anfühlen wie ein Föhn. Unter den Oberbaumbrücke soll die Spree der Nacht entgegenfließen.

Die Autofahrer sollen hupen vor lauter Übermut. Die Busse fahren mit offenen Türen. Es soll nach Knoblauch und Kreuzkümmel riechen, nach Benzin und blühenden Bäumen. Wo ich vorbeifahre, will ich Gelächter hören, Paare sollen sich küssen, und im Flieder verborgen lehnt der Sommer an einer Wand und spielt auf dem Akkordeon Lieder über die Liebe.

Es soll Sommer sein, denke ich mir, und der Sommer soll niemals enden.

Montag, 13. Dezember 2010

Fußkrank

Ich habe gehört, dass ein Franzose namens Wurst ein Buch darüber geschrieben hat, wie schlecht die deutschen Frauen flirten. Vermutlich ist da Einiges dran. Die deutschen Männer jedoch, oh Leserin, oh Leser, haben an diesem Umstand ein gerüttelt Maß Mitschuld, denn in Wahrheit verhält es sich doch so: Deutsche Männer haben beim Flirten Plattfüße.

Lächeln Sie als eine mittelalte, mittelgroße und mitteldicke Frau morgens in der M 4 nach Mitte einen beliebigen Mann freundlich an, weil er so schöne Haare hat zum Beispiel, dann schaut Sie dieser Mann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Misstrauen an. Nun gut, ein wandelnder Männertraum sieht anders aus, zugegeben - aber ist das ein Grund auszusehen, als habe man dem betreffenden Herrn im Anzug gerade kräftig und schmerzhaft in die Wange gekniffen? Vermutlich denkt der Betroffene des visuellen Überfalls gerade angestrengt nach, woher er einen kennt, kommt zu keinem Ergebns und vermutet eine Wahnsinnige? Was geht in den Herren vor, die irgendwo auf einer der etwas offizielleren Weihnachtsfeiern der Stadt neben einer Frau an einem Fingerfood-Buffet stehen und statt ein paar netter Worte über Shrimps und Roastbeefröllchen oder so einfach nur äußern, man möge ihm eine Serviette reichen und sich dann abwenden?

Auch nicht anders sieht es aus auf den Parties im eher privaten Rahmen. Wenn jemand sich mit Ihnen unterhält, dann macht er Ihnen garantiert keine Komplimente. Vermutlich fragt er, was man denn so mache, denn das machen sie immer, die Männer dieser Stadt, weil sie das zwar auch nicht mehr interessiert als ein Sack Reis in China, aber etwas anderes fällt ihnen ganz offensichtlich nicht ein. Geschmikt und geschmückt, parfumiert und enthaart, sorgfältig angezogen und einladend lächelnd stehen dann die weiblichen Gäste in fremden Küchen und fragen sich, wieso sie den ganzen Abend sehr ernsthafte Gespräche um internationale Politik oder den Kunstmarkt führen müssen. Komplimente müssen teuer sein. Anders ist das alles nicht zu erklären. Noch viel irritierender sollen die Reaktionen sein, wenn man selbst zur Offensive übergeht. Dass der Angefallene nicht einfach wegläuft, scheint noch die Optimalreaktion darzustellen.

Lächelt aber einer mal, macht möglicherweise hinreißende Komplimente und kann dann auch noch tanzen, ist man ganz verwirrt. In überproportional vielen Fällen ist dieser Herr dann aus fremden Landen, aber stammt derjenige schlicht aus Ulm oder Herford, dann reagiert man leicht irritiert, ein wenig verlegen (was ist das?), lächelt ein wenig unsicherer zurück, als eigentlich beabsichtigt und verdient, und wenn dann einer publiziert, die Berliner Frauen seien ein wenig, nun, spröde, dann hat er vermutlich recht.

Schuld, hier sei es einmal festgehalten, haben aber eigentlich die anderen.

Mittwoch, 8. Dezember 2010

Im Schnee

Zu Fuß mache ich mich auf den Heimweg. Schwarz ist der Himmel, als gebe es nie wieder Sterne, und es fällt Schnee, Schnee, Schnee, uns alle zu bedecken.

Mir aber geht es gut, umgeben von Flocken. Alle Fenster leuchten mir gelb und warm Willkommen. Meine Strumpfhosen sind dünn, ich friere nach wenigen Metern, doch der Schnee wirbelt die Kälte weg, und wenn einer anriefe, mit mir im Volkspark einen Schneemann zu bauen, ich liefe los und rollte Riesenkugeln aufeinander. Weil keiner anruft, laufe ich heim.

Drei Mädchen mit diesen Schlumpfmützen, die so lange Hinterköpfe machen, laufen lachend untergehakt an mir vorbei. Absätze haben die drei unter ihren Stiefeln, dass ich neidisch werde, weil sie so sicher laufen, als seien sie schon mit Absätzen geboren, und ich suche in meinem iPod nach einem Song, der mich nach Hause begleitet, und würde mitsingen, fiele mir etwas Gutes ein.

(Zu Hause aber ist alles dunkel und still.)

Mein anderes Ich im Winter

Im Winter wäre ich gern jemand anders. Bevorzugt wäre ich etwa gern eine Person, die morgens nicht aufstehen muss, das wäre eigentlich optimal. Ich würde mich einfach im Bett umdrehen, wenn es draußen trüb, feucht und kalt aussieht, weiterschlafen, und wenn um elf die Katzen richtig renitent werden, würde ich mich in die Küche schleppen, eine Runde Katzenfutter für alle, und dann schliefe ich weiter. Optimalerweise würde mir jemand, der auch nicht aus dem Haus muss, Kaffee kochen und mich gegen Mittag vorsichtig wachstreicheln.

Wäre ich erst einmal wach, würde ich gern fliegen. Ich bin an sich ganz gern im Büro, aber die Anfahrt mit der M 4 die Greifswalder abwärts ist bei Temperaturen wie diesen kein Spaß. Der BVG ist alles in allem nicht klar, dass im Winter doppelt so viele Leute wie sonst Straßenbahn fahren, deswegen sind die Bahnen unglaublich überfüllt, und die Berliner sind im Winter alle Misanthropen und hören außerdem über Kopfhörer ganz, ganz, ganz laut Musik. Manche sprechen auch mit anderen oder telefonieren lautstark, um die Fahrzeuggeräusche zu übertönen. Könnte ich auf dem Luftweg ins Büro gelangen, wäre alles besser.

Insgesamt wäre ich auch ganz gern jemand, der nicht so schrecklich friert. Nun gut, es mag auch an meiner Abneigung gegen Hosen liegen, dass mir dermaßen kalt ist, aber ich sehe in Hosen merkwürdig aus, und trage nur zu Hause auch mal Jeans, wo es nicht so drauf ankommt. Ich habe schon dicke, gestrickte Strumpfhosen an, aber das hilft auch nicht. Ich wäre gern so kälteresistent wie manche britische Mädchen, die halbnackt stundenlang vor Clubs stehen können. Ich zittere von Dezember bis März und gelte in mir nahestehenden Kreise vermutlich als ziemlich verweichlicht.

Abends wäre ich gern jemand auf einem Sofa. Ich habe abstrus viele Termine, dabei würde ich an sich gern zu Hause herumliegen. Ich hätte gern eine Katze auf dem Bauch. Man sollte mir Kakao und Cupcakes reichen. Ich möche eine Nackenmassage und dann so langsam davondämmern. Wenn ich einschlafe, trüge man mich ins Bett und sänge mir leise, leise Lieder vor und bürstete mir sorgfältig und ohne mich zu wecken die Zähne.

Sonntag, 5. Dezember 2010

Madame geht leer aus

Ach. Was habe ich angerichtet. Ich sitze also vor einer guten Woche neben dem geschätzten Gefährten auf dem Sofa. Gegenüber vom Sofa steht eine niedrige, dunkle Kommode aus den Dreißigern, mehr so mittelattraktiv und ungefähr einen Meter hoch, und über der Kommode klaffen 2,70 weiße Wand bis zur Decke. Wir sind kürzlich umgezogen, und jetzt haben wir geradezu ungemütlich viel Platz.

"Ist ziemlich kahl hier.", sage ich also zum J. Der J. nickt. Über uns, also überm Sofa, hängt zwar ein Bild, eine großformatige Photographie von einem Berliner Photographen, dessen Namen ich vergessen habe, aber das sieht man ja nicht, wenn man auf dem Sofa sitzt. Was soll ich sagen - der horror vacui war stärker als wir. Wir haben noch in der letzten Woche ein Bild gekauft. Es ist ziemlich groß und war (für unsere Verhältnisse) ziemlich teuer, und deswegen schenken wir es uns beide gegenseitig zu Weihnachten. Ansonsten gibt es nichts.

Am Dienstag waren dann meine Eltern in Berlin. Ich treffe meine Eltern immer gern. Meine Mutter hat zwar eine doppelt so hohe Schlagzahl wie jeder andere Mensch, den ich kenne, aber für kürzere Zeiträume ist das sehr amüsant. Meine Mutter bringt deswegen das Vielfache an Information in einem Abend unter, mein Vater dagegen ist ein Quell der Ruhe und des Friedens, und so saßen wir zu dritt beim Cavallino Rosso, das ist so ein ganz netter Italiener in Mitte, und aßen sehr gut und viel und lange. Irgendwann brachten meine Eltern mich nach Hause, ich erhielt eine Tasche, in der war mein Adventskalender. Tasche samt Kalenderinhalt, so teilte man mir mit, seien mein Weihnachtsgeschenk.

Weihnachten werde ich also weder vom J., noch von meinen Eltern ein Weihnachtsgeschenk erhalten. Von meiner Schwester erhalte ich vermutlich ohnehin nur Käse, eine Duftkerze etwa oder eine CD von Norah Jones oder ein Buch über Powerpilates. Von den Eltern des J., die zu allem Überfluss hier auch noch einen Tag erscheinen, erhalte ich wie immer vermutlich wahlweise Bettwäsche oder Handtücher, was jetzt ungefähr so viel Freude hervorruft, als wenn man mit sieben statt einer Playmobil-Ritterburg einen Rollkragenpullover erhält, und sehr viel mehr Menschen gibt es gar nicht, die mir etwas schenken könnten. Madame geht also leer aus.



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