Ein Toter lacht

Des Nachts sitzt er auf einmal an meinem Bett. „Du bist doch tot.“, sage ich ihm und lege meine Hand auf die Leichenflecken auf seiner Brust. „Man trinkt nicht einfach so von fremdem Blut.“, sagt er, lacht, zeigt seine schiefen, spitzen Zähne und streicht mir mit kalten, feuchten Fingern den Hals abwärts.

„Mir geht´s nicht gut.“, sage ich, damit er verschwindet und reiße den Rachen weit auf, um ihn in mein Inneres schauen zu lassen, dass er Mitleid hat mit mir. Mit offenem Mund lacht er mich aus, legt sich zu mir und drückt mir die kalten Glieder an den Leib. „Ich hab dich nie geliebt.“, sage ich, damit er weint, ablässt von mir und wieder verschwindet in jenen Hohlraum zwischen Haut und Adern, wo er herkommt, und wohin er wieder verschwinden soll.

Er aber legt mir den Arm um die Schulter, und tief sinke ich ein in sein mürbes Fleisch. Geschichten erzählt er mir, so viele Geschichten von ihm und mir, die so lange vorbei sind, dass ich sie vergessen habe, wenn ich nicht schlafe, gekreuzigt von der Nacht auf trockenem, splitternden, schlafblauem Holz. „Ich habe dir doch nichts getan.“, behaupte ich, und er lacht, lacht mich aus, zeigt mir Wunden, die ich nicht geschlagen habe bei Tageslicht und Sonnenschein.

„Du hast bekommen, was du gesucht hast.“, halte ich ihm vor, und er nickt und spricht weiter. „In allen Untergängen haben wir uns gefunden“, sage ich. „Auf dem Weg zur Hölle warst du nicht allein.“

„Du hast mich verraten.“, sagt er, und zieht mir den Kopf zur Strafe so weit nach hinten, bis der Hals in den Wirbeln krachend nach hinten fällt.

Jeder ruiniert sich, wie er kann, denke ich, schaue ihn an und fahre langsam durch sein dichtes, dunkles Haar. Er tut mir nicht leid, wie er nun da sitzt, ausgeliefert unter meiner Hand, die Augen zugekniffen und den Mund halbgeöffnet zwischen blauen Wangen. Hilflos rudern seine Arme in meiner Schlafluft, und die kräftigen Fäuste werden weich. Wie Tentakel ragen seine Finger in den Raum.

„Ich bin dir über.“, halte ich dem Alptraum vor, und er lacht, er lacht so laut, so gellend, dass ich erwache und ihn eine Zigarettenlänge lang noch riechen kann in der Luft über meinem Balkon.
engl - 9. Okt. 2005, 17:35 Uhr

solange er in träumen lacht und lebt, hat er es vermutlich ganz gut.
burnston - 9. Okt. 2005, 18:21 Uhr

Seltsam. Mein schlimmsten Albträume sind die von geradezu surrealer und verbotener Harmonie. Die Toten sind nicht streitsüchtig.
mcwinkel - 9. Okt. 2005, 20:55 Uhr

In meinem schlimmsten Albtraum war ich plötzlich jemand Anderes. Zum Glück klingelte rechtzeitig der Wecker!

Ich hoffe, Sie hatten trotzdem noch einen schönen Tag, Frau Modeste!
arboretum - 9. Okt. 2005, 19:54 Uhr

Alles Vergessene schreit im Traum um Hilfe. Keine Ahnung, wo und in welchem Zusammenhang ich diesen Satz einst las, er fiel mir eben nur wieder ein.
croco - 9. Okt. 2005, 22:14 Uhr

Das müsste es sein....

Alles Vergessene schreit im Traum um Hilfe, (Regie Albrecht Metzger), WDR 1983
arboretum - 10. Okt. 2005, 0:20 Uhr

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass auch der Filmtitel nur ein Zitat ist.
Modeste - 10. Okt. 2005, 0:04 Uhr

Ich hoffe, Frau Engl, er hat es auch in realiter gut. Sofern dies nicht der Fall sein sollte, liegt es, ich schwöre bei meinen neuen Stiefeln, aber keinesfalls an mir.

Dass die Toten nicht streitsüchtig seien, Herr Burnston, hängt, glaube ich, ganz von den Toten ab. Und gerade die Untoten können manchmal verdammt unangenehm werden.

Träume, in denen man auf einmal jemand anderes ist, Herr MC, habe ich auch früher ab und zu gehabt, oder man ist auf einmal mehrere oder wechselnde Personen. Ich denke, dass sich das mit wachsendem Alter wahrscheinlich gibt, wenn man fester in seiner Haut steckt.

Und Ihr Satz, Frau Arboretum, ist von großer, wenn auch etwas beunruhigender Schönheit. Und haben Sie, Frau Croco, den Film gesehen? Ist er gut?

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