Montag, 21. März 2005

Öffentliche Angelegenheiten

Am Ende der Nacht sitze ich bei C. auf dem Sofa. Wir trinken indischen Gin, weil die Flasche noch vorrätig ist in diesem ansonsten ziemlich abstinenten Haushalt, und die C. spricht über Helmut Lang. Ich schaue ein bißchen aus dem Fenster und überlege, ob es sich noch lohnt, schlafen zu gehen.

„Ist dein Freund nicht da?“, frage ich C., und diese verweist auf ein Seminar, dass diejenige Parteistiftung gerade veranstaltet, die aus unerklärlichen Gründen dem Freund der C. das Studium bezahlt hat. „Auf eine Partei wäre ich ja nie im Leben verfallen,“, teile ich der C. mit. „Du liest doch nicht einmal den Politikteil.“, lacht die C. und stubst die FAS an, die zerblättert vor meinen Füßen auf dem Boden liegt. „Das ist so nun auch wieder nicht richtig,“, streite ich ab. Die C. wehrt ab. Ihr bräuchte ich nichts vormachen. Im übrigen hätte ich auch recht: Politik habe angesichts der Globalisierung jede Gestaltungsmacht verloren, und welche Partei die Regierung stelle sei ganz und gar Wurst.

Ob diese doch eher etwas grobschlächtige Auffassung nun tatsächlich den Realitäten entspricht, kann durchaus dahingestellt bleiben. Faktum scheint aber zu sein, um ein Fazit eines übermüdeten Frühstücks und einen langen Spaziergangs dazu zu ziehen, dass sich vielleicht nicht die Politik von der Gestaltungsfähigkeit verabschiedet habe, sondern schlicht die Gesellschaft von der Politik. Und das hat keineswegs etwas mit Politikverdrossenheit zu tun.

Der T. etwa, jener freundliche und gutaussehende junge Herr, ist, wenn ich es richtig verstanden habe, sogar Mitglied einer unterhaltsamen Partei, der auch S. angehört. Beide gehen regelmäßig wählen, glauben an die arbeitsplatzvermehrende Wirkung von Unternehmenssteuersenkungen und Sozialhilfekürzung, und haben sogar ein paar Bücher, in denen Spitzenfunktionäre des deutschen Verbandswesens die deutsche Misere beklagen. Zum Glück sprechen sie selten davon.

Der J. wählt schwarz oder grün, je nachdem, wer zur Wahl steht, und pflegt jenen beiläufigen Liberalismus, in dem jeder alles machen kann, es sei denn, er träte J. dabei zu nahe. Fragt man ein wenig nach, so erhält man als J.´sches Lösungsangebot für schwerwiegende Probleme der Republik einen etwas wolkigen Appell an das Pflicht- und Anstandsgefühl der Deutschen, die sich mehr fragen sollten, was sie für die Gesellschaft tun könnten. Vom Rest meiner Umgebung kann ich nur raten, ob und was sie wählen oder denken. Ich tippe auf ein ausgeglichenes Verhältnis von 50 % Grün, und jeweils 25 % gelb und schwarz. Die Sozialdemokratie hat meines Wissens keine real existierenden Anhänger unter 50 mehr und wird demnächst aussterben, aber diese Vermutung kann auch auf einer Sinnestäuschung oder der zufälligen Zusammensetzung jener Menschen, die mir ihre politische Haltung mitteilen, beruhen.

Die untergeordnete Rolle der Politik im Kanon der Dinge, über die ich sprechen höre, steht in einem geradezu schreienden Gegensatz zu der zentralen Rolle, die alle politischen Angelegenheiten im Leben der heute Sechzigjährigen einnehmen. Vermutlich hat das 20. Jahrhundert alle in diesem Universum verfügbare politische Leidenschaft endgültig verbraucht. Zwar habe ich irgendwo erst letztlich gelesen, den meisten Menschen seien politische Themen außerordentlich wichtig, und nur die Mechanismen der real existierenden Politik hielten die Bevölkerung von politischem Engagement ab. Die Gesellschaft warte geradezu mit angehaltenem Atem auf mutige Reformen, entschlossene Führung und breite gesellschaftliche Diskussionen, aber das ist natürlich alles Kokolores: Die Gesellschaft, soweit sie sich mit mir unterhält, wartet auf gar nichts, leidet an gar nichts, und erwartet von der Politik im wesentlichen einen störungsfreien Verlauf der öffentlichen Angelegenheiten. Grundlegende gesellschaftliche Defizite hat mir gegenüber schon lange keiner mehr beklagt. Unter den Themen an den Tischen, an denen ich esse, nimmt die Politik weit weniger Raum ein als die Gartenbaukunst – und niemand von uns besitzt überhaupt einen Garten. Weder Arbeitslosigkeit, noch Bürokratieabbau, weder die Steuerreform noch der Umbau des Sozialversicherungswesens, bringt irgend jemanden, den ich kenne, um den Schlaf. Hier gibt es ebenso wenig drängenden Reformwillen wie wütende Besitzstandswahrung.

Ob die Gleichgültigkeit gegenüber der Politik eine vernünftige Haltung darstellt, darf selbstverständlich bezweifelt werden. Vermutlich will der Rest der Welt sich vielleicht zu recht von Menschen wie uns ohnehin nicht regieren lassen. Aber wer, so fragt man sich manchmal, wird denn eines Tages in zwanzig Jahren oder fünfzehn die Regierung stellen? Werde ich, wenn es mir 2014 einfällt zu wählen, irgendeinen pickligen Nerd zum Bundeskanzler küren müssen, weil er weiland aufgrund von schlechtem Aussehen und minderer Intelligenz außer der Ortsgruppe der JU Pfaffenhofen keine Möglichkeiten der Freizeitgestaltung hatte? Besteht die Bundestagsfraktion der Grünen dann irgendwann aus meiner Nachbarin im Studium, die immer so weinen musste, wenn sie von Armut in der Dritten Welt oder dem Holocaust las?

Im Zweifel wird mir das egal sein, aber besser wäre es schon, es wäre anders. Wie wird es die Politik verändern, wenn sie keine emotionalen Reaktionen mehr auslöst? Wird eine kühle, technokratische Sachpolitik jenseits der Träume und Visionen vielleicht reibungsloser funktionieren? Oder hat die Presse recht, die Gesellschaft schreit nach Veränderungen - oder eben nicht – und nur in meiner Luftblase, irgendwo am Grunde des Meeres, schreit halt keiner?


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