Donnerstag, 26. Mai 2005

Das Bildnis der Anita Berber

„Kommst du heute nachmittag mit zur Artothek?“, frage ich die C., und weise auf die beiden leeren Wände meiner Wohnung hin, die geschmückt sein sollen. „Ich schleppe aber nicht schon wieder Riesenschinken durch die halbe Stadt.“, mahnt C., und schlägt vor, doch zumindest eine Wand mit Kunstdrucken oder Photos zu verzieren, die nicht alle drei Monate ausgetauscht würden. „Kunstdrucke will ich nicht.“, schleudere ich der C. empört entgegen und sehe mich schon zwischen fehlfarbenen Postern Van Gogh´scher Sonnenblumen und einem großen Blauen Pferd von Franz Marc ein trauriges Dasein in knallbunten ästhetischen Abgründen führen.

Einen Kunstdruck jedoch, fällt mir ein, als ich auflege – einen Kunstdruck werde ich mir doch hängen: Dix´ Bildnis der Anita Berber.

Der Druck hing schon einmal in meiner Wohnung und begrüßte meine Gäste. Aus grünen, verwesten Augen am Betrachter vorbei schauend, sehr körperlich und sehr entrückt zugleich. Die weiße Haut, die nicht von Reinheit spricht, sondern nur noch von thy pale, lost lilies der toten Liebe. Jenes Rot in Kleid, Haar und Hintergrund, dieses Rot über und über, an dem man stirbt. Traurige Enkelin der schönen Damen des Fin de siècle, die tanzend und lächelnd haarigen Feinden den Kopf abschnitten. Ein alle Konturen des Körpers nachzeichnende Sinnlichkeit, die nichts Frivoles an sich hat, nichts Lachendes, Leichtes, sondern nur den tiefen Ernst der Vergeblichkeit und die Maßlosigkeit des Untergangs.

In der gemeinsamen Wohnung mit J. verschwand Anita Berber hinter dem Schrank. J., der die saubere Damenhaftigkeit einer Audrey Hepburn schätzte, und Grace Kelly mit einem Glas weißen Weins zuprosten mochte, mochte die „fette Frau“ nicht sehen. Sehnsucht und Verfall wurden ferngehalten von der erschrockenen Seele, und irgendwann war das Bild weg und ward nicht mehr gesehen. Ab und zu erwähnte ich das verschwundene Bild, auf dem J. nichts sah als eine etwas aus der Form geratene Tänzerin, die den vitalen Elan nicht gehabt hatte, alt und wohlhabend zu werden. Käuflich sei sie gewesen, hielt J. mir vor, und hielt die Debatte für erledigt.

Erledigt hat sich irgendwann die Wohnung mit J. Die gemeinsame Zukunft rottet nun irgendwo auf dem Grund der Spree, oder in den dickflüssigen Resten in den Gläsern, wenn die Bar schließt. Die leeren Stellen in der Wohnung sind fast wieder voll, und über der weißen Kommode, auf der die Lilien stehen, wird Dix´ Anita Berber hängen, wenn ich sie wiederfinde, irgendwo.


Benutzer-Status

Du bist nicht angemeldet.

Neuzugänge

nicht schenken
Eine Gießkanne in Hundeform, ehrlich, das ist halt...
[Josef Mühlbacher - 6. Nov., 11:02 Uhr]
Umzug
So ganz zum Schluss noch einmal in der alten Wohnung auf den Dielen sitzen....
[Modeste - 6. Apr., 15:40 Uhr]
wieder einmal
ein fall von größter übereinstimmung zwischen sehen...
[erphschwester - 2. Apr., 14:33 Uhr]
Leute an Nachbartischen...
Leute an Nachbartischen hatten das erste Gericht von...
[Modeste - 1. Apr., 22:44 Uhr]
Allen Gewalten zum Trotz...
Andere Leute wären essen gegangen. Oder hätten im Ofen eine Lammkeule geschmort....
[Modeste - 1. Apr., 22:41 Uhr]
Über diesen Tip freue...
Über diesen Tip freue ich mich sehr. Als Weggezogene...
[montez - 1. Apr., 16:42 Uhr]
Osmans Töchter
Die Berliner Türken gehören zu Westberlin wie das Strandbad Wannsee oder Harald...
[Modeste - 30. Mär., 17:16 Uhr]
Ich wäre an sich nicht...
Ich wäre an sich nicht uninteressiert, nehme aber an,...
[Modeste - 30. Mär., 15:25 Uhr]

Komplimente und Geschenke

Last year's Modeste

Über Bücher

Suche

 

Status

Online seit 7118 Tagen

Letzte Aktualisierung:
15. Jul. 2021, 2:03 Uhr

kostenloser Counter

Bewegte Bilder
Essais
Familienalbum
Kleine Freuden
Liebe Freunde
Nora
Schnipsel
Tagebuchbloggen
Über Bücher
Über Essen
Über Liebe
Über Maschinen
Über Nichts
Über öffentliche Angelegenheiten
Über Träume
Über Übergewicht
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren