Dienstag, 30. August 2005

Das Große Neusser Wunschkonzert

Lesungen, meine Damen und Herren, sind eine aufregende Sache – wird überhaupt irgendwer kommen? Mögen die, die erscheinen werden, mich und meine Texte, oder fängt das Publikum jedesmal, wenn ich anhebe zu lesen, an, mit Stühlen nach mir zu werfen? Oder lacht mich einfach aus? Und was wollen die Neusser Sonntagabend eigentlich von mir hören? Ist mein minderjähriger Cousin interessant genug? Will die Welt alles über den unsichtbaren Pinguin meines geschätzten ehemaligen Gefährten wissen? Darf ich meinen Lieblingstext vorlesen, auch wenn er von Kleist handelt, den angeblich und außer mir keine Sau auf Erden freiwillig liest?

Gespannt, aufgeregt und ein bißchen unsicher ob der Auswahl habe ich einige Texte zusammengestellt, einen letzten Text aber überlasse ich dem werten Publikum, das – anwesend oder nicht – Wünsche äußern darf, die ich möglicherweise erfüllen werde.

Also, meine Damen und Herren,

Was wollen Sie von mir hören?

Schließe mir die Augen beide

Der Schlaf will nicht kommen. „Bleib´ bei mir.“, bitte ich, aber der Schlaf ist woanders, und schickt nur seinen Schatten, jenen Zustand auf der scharfen Schneide zwischen Traum und Tag, offene Augen und jene Wehrlosigkeit gegen die Farben und Geräusche dieser Wohnung, deren Leere und Stille schwer auf meinem Hals sitzt.

Im Badezimmer zeichnen die roten Vorhänge fiebrige Schlieren auf den Boden, das Wasser in meinem Glas flüstert von Schmerz und Niederlagen, Abschied und vergeblichem Warten. „Was willst du?“, fragt mich die Wand, aber das habe ich vergessen. Im Spiegel über den Waschbecken schaut mir eine Frau in die Augen, die stehenbleiben wird, wenn ich das Bad verlasse, um eine halbe Stunde beim Lampenlicht im Bett zu sitzen, nicht ganz wach, nicht schläfrig, aufgehängt an der Mauer, die Schlaf und Wachen trennt.

„Gleichsam, als ob unsere Berührung etwas Ansteckendes hätte, verderben wir durch unser Behandeln solche Dinge, die an und für sich selbst schön und gut sind.“, lese ich bei Montaigne, und klappe den schmalen Band wieder zu. Mit dem Verlöschen des Lichts fängt das Dunkel wieder an, Schwaden zu ziehen, sich zu verdichten, und vielleicht greift eine Hand nach mir, wenn ich endlich schliefe, um auf meiner Stirn zu liegen im Bösen oder Guten.

Über dem Dach des Hinterhauses verliert die Nacht schon ihre Tiefe, flacht ab und zeichnet die nüchternen Konturen der Kastanie gegen das Licht, deren Blätter braun und fleckig werden. Die Kastanie schickt ihre Schatten in meinen Traum, zwischen reifen Weizenfeldern schreite ich langsam im Schatten der Bäume eine Allee entlang. Zur Linken sehe ich Mühle und Weiher, zur Rechten dehnen sich die Felder, und die fremde Frau, die mir entgegen läuft, sehe ich minutenlang näher kommen, sie rennt, rast, ich höre ihren Atem, und sehe ihre nackten Beine weit ausholen. Spät erst sehe ich sie bluten, sie sieht mich nicht, sie zieht ihre blutigen Streifen über den Straßenbelag, und keucht immer schneller auf mich zu. Mich ergreift die Wut, ich hasse die Fremde für ihr Blut, für ihren gehetzten, eiligen Lauf, und so stelle ich ihr, als sie blicklos an mir vorbeilaufen will, ein Bein, ziehe sie zu Boden, beiße in ihre Schulter, ramme ihr mein Knie in den Bauch, und tauche die Hände in ihre offenen Wunden. Sie wehrt sich, kratzt mir den Hals auf, schreit schrill und erbärmlich, aber ich bin frisch, die Fremde hat einen langen Weg hinter sich und ist verletzt, und so ziehe ich die Stillgewordene irgendwann in das Weizenfeld zur Seite der Allee und setze meinen Weg fort.

Der Tag wird heiß, denke ich, als ich, die Teetasse in der Hand, am Fenster stehe, zwei Stunden nach meinem letzten Blick auf die Uhr.


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