Dienstag, 23. Mai 2006

Unheil und Orakel

Als Grieche musste man ja bis nach Delphi fahren, als Römer ließ man sich die Zukunft aus toten Tieren vorlesen, aber der menschliche Fortschritt ist ja kaum aufzuhalten, und so vermittelt gegenwärtig bereits ein Blick in den Spiegel eine hinreichende Prognose über den Verlauf des Tages. Priester brauchen Sie dazu eigentlich keine. Stehen Sie einfach auf, gehen Sie ins Bad, und wenn Ihre Haare im Spiegel aussehen wie etwas, was man der Welt tunlichst verbergen sollte, dann gehen Sie wieder ins Bett. Und wenn es klingelt, dann machen Sie nicht auf.

Wenn Sie aber zugesagt haben, in Bonn im Rheinland öffentlich aus diesem Blog vorzulesen, und um 8.00 Uhr in der Früh abgeholt werden sollen, und derjenige, der da klingelt, vermutlich der Fahrer ist – dann duschen Sie doch. Auch wenn Ihre Haare das Schlimmste befürchten lassen. Kommendes Unheil sitzt auf Ihrem Kopf, Sie sehen es ganz genau, und dann stopfen Sie irgendwelche Sachen in eine Tasche, vergessen ausreichend Proviant, und laufen los. Auf Ihrem Kopf dräut das Verderben, aber auf der Straße steht ein Mazda 323, neben dem Wagen steht der Fahrer, der äußerst begabte und ungewöhnlich sympathische Herr A., und dann fahren Sie einfach los. „Du wirst schon sehen, was du davon hast.“, flüstert das Schicksal gewohnt boshaft in Ihre Ohren, aber Zuhören war nach sachverständiger Meinung ohnehin noch nie Ihre Stärke.

Die Mitnahme einer über eine Mitfahrzentrale vermittelten Dame in der Kastanienallee funktioniert reibungslos. „Wir fahren jetzt erst in den Wedding und holen den N. ab, und dann sammeln wir noch so eine Litauerin am S-Bahnhof Friedrichstraße ein.“, erläutert der Fahrer und gibt Gas.

Groß, oh Herr, ist aber der Wedding, und klein Deine unwürdigen Geschöpfe. Herr N. soll irgendwo am Leopoldplatz warten, und wo wir sind, ist so ganz genau nicht auszumachen. Nicht am Leopoldplatz jedenfalls, soviel steht fest, vielleicht auf der Brunnenstraße. Oder auf der Schulstraße, aber wo die ist, weiß man wiederum nicht so genau, und labyrinthisch-amorph erstreckt sich der Wedding rechts und links von A.'s Auto und sieht überall gleich aus. Immerhin wartet der N. noch nicht irgendwo auf öffentlichen Plätzen, denn jener ist gerade ist erwacht. Auch das wird sich aber ändern, denn eine halbe Stunde später ist der Wedding eher noch rätselhafter geworden, der N. steht irgendwo an einem Ort, den wir nach wie vor suchen, und ich erkenne, den Wedding zu recht in all den Jahren meines Aufenthalts vermieden zu haben. - Am Ende aber finden wir den N. und die Litauerin dazu, die Autobahn Richtung Magdeburg, und fahren. Links von uns fahren lauter LKW’s Richtung Süden, aber meine Haare stehen nach wie vor auf Sturm. Das Unwetter scheint noch nicht vorbeigezogen, aber um den Wagen herum grasen friedlich die Kühe, andere Autofahrer fahren uns entgegen oder vorbei, und hinter den Scheiben der Wagen kann man jene Menschen sehen, von denen man sich schon in der S-Bahn fragt, wo man eigentlich hingeht, wenn man so aussieht. Und warum man nichts dagegen tut.

Kurz vor Hannover aber bestätigt sich das Haar-Orakel. Mit einem schier unglaublichen Tempo reißt der Fahrer das Steuer nach rechts, die Fliehkraft greift begeistert nach dem Wagen, und in der Ausfahrt auf einen Rastplatz dreht sich der Wagen zwei-, dreimal um die eigene Achse, bricht über den Kantstein, fegt einen halbrunden Betonpoller einige Meter weiter einem Smart entgegen, und bleibt kurz vor dessen Tür stehen. „Is‘ ni-nichts pa-pa-pa-passiert.“, wird der Insasse jenes Kleinstwagens später sagen. „Ha-ha-hab ja die Tür geschlossen. D-d-der Smart i-i-ist ja sicher.“ – Ob dieser leicht unförmige Herr, der den Innenraum dieses Wagens ausfüllt, eigentlich immer stottert oder nur unter dem Eindruck des Betonpollers die Sprache verloren hat, werde ich nicht mehr erfahren. Es geht weiter.

Immer noch aber beruhigt sich das Haarorakel in keiner Weise. Meine Haare stehen nach rechts und links ab, Strähnen stehen sogar nach oben, glaube ich, und der Tag ist noch lange nicht vorbei. Zur selben Stunde nämlich kippt einige Kilometer südlich, irgendwo bei Dortmund, ein LKW auf der Autobahn um und ergießt seine Fracht auf die Fahrbahn, es ist Gas, und wenn wir zu jener Stelle kommen, wird die Autobahn gesperrt sein. Komplett gesperrt.

Die Darstellung der nächsten Stunden, oh mein geschätzter Leser, verehrte Leserin, erspare ich Ihnen, und ich wünschte, dass es auch mir gelungen wäre, für vier Stunden und 12 Kilometer in einen beseligenden Tiefschlaf zu fallen. Die Stimmung im Innenraum des Wagens nimmt langsam eine leicht angestrengte Färbung an, die eher scherzhafte Garnitur der Konversation changiert ins leicht Düstere, denn immer später wird es, immer näher rückt der Lesungstermin, die mitgefahrene Dame muss nach Köln, und mir ist langweilig. Immerhin muss ich nicht auf Klo.

Richtig gegessen habe ich nichts, mein Buch geht langsam zur Neige, und nur die Tatsache, nicht mit mir sehr nahestehenden Personen unterwegs zu sein, hindert mich an grundlosen, aber bösartigen Ausbrüchen, wie Menschen wie ich sie in derlei Situationen ja gerne einmal produzieren. „Hättest du einmal auf uns gehört!“, zischelt es in meinen Haaren. „Jaja..“, flüstere ich zurück, aber nur ganz leise, damit die anderen Wageninsassen mich nicht für irre halten. Dann kommt die Ausfahrt. Und meine Haare sind immer noch nicht okay, und das zu recht, denn stundenlang werden wir durch das Bergische Land fahren, entlang der Straße schauen uns Passanten aus ihren Vorgärten ein wenig dumpf und ziemlich mürrisch entgegen, und alle Jugendliche von Volmarstein, denn so heißt der Ort, stehen an den örtlichen Bushaltestellen, und kaum verlassen wir Volmarstein, erscheint ein neues Ortsschild, auf dem wiederum Volmarstein steht, und für einen Moment befürchte ich ernsthaft, in eine jener irrationalen Schleifen geraten zu sein, in denen ein gewisser Sisyphos sich seit einiger Zeit aufzuhalten pflegt: Kaum ist man draußen, geht es wieder von vorne los.

Den widerlichen Imbiss mit dem schmierigen Cheeseburger erspare ich jetzt mir und Ihnen. Den Rest der Fahrt bis Bonn auch. Und die fünf Minuten, die ich gelesen habe, auch wenn es wirklich nett war nach vollender Ankunft.

Aber Samstag war ich beim Friseur und opferte dem Orakel ein paar schwarze Strähnen, um schlechte Vorzeichen für nächste Woche schon von vornherein vollkommen auszuschließen.

Nachtrag: Nils Heinrich würde das auch nicht wieder machen.



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