Montag, 6. November 2006

All die Asche unserer Herzen

Es sei ihr im Alter nicht mehr gut gegangen, sagt mein Gegenüber und schiebt mit zwei Fingern das obere Ende der Kerze zusammen, so dass die Flamme fast verlischt. Sie sei immer still gewesen, so dass nicht einmal sein Vater als ihr einziger Sohn bemerkt hätte, wie im Kopf der Großmutter die Lichter ausgingen, und sie nicht nur wenig sprach, sondern wenig dachte oder zumindest etwas ganz anderes als alle anderen Leute, und es irgendwann nicht einmal mehr zum Zubinden der Schuhe reichte oder zum Kartoffeln Kochen.

Ins Heim hätte die Großmutter zu allem Überfluss fast gemusst, die schon ein schweres Leben gehabt habe, und der am Ende um ein Haar auch dies nicht erspart geblieben wäre. Immer hätte die Großmutter Angst gehabt vor dem Heim, noch mehr als andere Leute hätte sie sich gefürchtet, denn als Kind, als kleines Mädchen, hätte die Großmutter im Heim gelebt, wo sie als uneheliches Kind eines Dienstmädchens abgegeben worden sei, als ihre Mutter starb. Dort hätten sie ihr die Haare abgeschnitten, und einen grauen Kittel hätte sie tragen müssen, immer denselben, denn mehr war nicht vorgesehen. Gefroren habe sie den ganzen Winter.

Auch die Großmutter sei Dienstmädchen geworden, mit vierzehn, und hätte hart gearbeitet alle Tage, gewaschen und geputzt, und auch am Abend sei die Arbeit noch nicht zu Ende gewesen, so dass die Großmutter ein Kind bekommen hätte, mit 16, die Tante meines Gegenüber, und den Vater zwei Jahre darauf. Mit den Kindern des Brotgebers seien die Kinder aufgezogen worden, großzügig zusammen zur Schule geschickt worden, und zu den unehelichen Kindern sei der Großvater, der Brotgeber der Großmutter, nicht anders gewesen als zu den ehelichen. Das sei selten gewesen, damals in den Fünfziger Jahren, und die Großmutter sei ihm so dankbar gewesen, dass es fast peinlich gewesen sei. Herrn Doktor, hätte sie ihn trotzdem immer genannt. Nie beim Vornamen.

Ob sie glücklich war oder unglücklich dabei, habe sie nie gesagt. Vielleicht gab es Glück gar nicht in ihrer Vorstellung, vielleicht war Glück nur etwas für andere Leute. Für die Frau des Herrn Doktor, die Mutter der anderen Kinder, aber offenbar nicht. Zweimal versuchte die Frau Doktor zu sterben, wurde aufgehalten auf dem Weg ins wunschlose Dunkel und lebte weiter. Jedesmal pflegte die Großmutter die andere Frau, wusch sie, fütterte sie, und eines Tages stand die Frau Doktor wieder auf.

Die Kinder des Herrn Doktor studierten, und auch der Sohn des Dienstmädchens ging zur Uni und wurde Ingenieur. Als der Herr Doktor starb, standen alle Kinder und die beiden Frauen am Grab. Dann ging jede ihrer Wege.

Man schrieb sich zu Weihnachten, man besuchte sich, man bedauerte sich, als die Tochter des Dienstmädchens starb, und der älteste Sohn der Frau Doktor: Einmal an Drogen und einmal bei einem betrunkenen, dummen Unfall. „Sie können stolz sein!“, schrieb die Frau Doktor, als der Sohn des Dienstmädchens Leiter eines Abteilung in dem Unternehmen wurde, in das er nach dem Studium eingetreten war, und erschien zur Taufe der Enkel. Als der Sohn von seiner Firma ins Ausland geschickt wurde, bedauerte die eine Frau die andere, und als Großmutter nicht mehr schreiben und nicht mehr sprechen konnte, schrieb die Frau Doktor an den Sohn.

Seine Mutter sei krank, schrieb die alte Frau Doktor. Eine Schande sei es, die alte Mutter nicht zu sich zu nehmen, und er solle sich schämen in dem fremden Land. Besuchen solle er zumindest seine Mutter, aber nicht im Heim, sondern bei ihr. Als der Sohn anrief, wohnte die Mutter schon bei der Frau Doktor.

Es gehe ihr gut, sagte die Frau Doktor, und beendete das Gespräch, weil Auslandsgespräche so teuer seien. Er möge schreiben, denn das sei billiger. Der Mutter gehe es gut, sie werde gefüttert und gewaschen, man sei überdies aneinander gewöhnt, und Geld brauche sie nicht. Das habe sie selber.

Großzügig und beschämend sei das gewesen, sagt mein Gegenüber, hält das Wachs der Kerze mit dem Finger auf, und ein paar grüne Tropfen erstarren auf dem Nagel. „Schon.“, antworte ich, und schaudere für einen Moment, wie sehr das Leben und die Liebe die beiden Frauen zerbrochen haben muss, wie fein zermahlen die Sehnsucht nach dem Geliebtwerden, nach dem Einzig- und Einigsein am Ende gewesen sein muss, um diese Geste zu ermöglichen.

„So will ich nie sein.“, sage ich, um überhaupt etwas zu sagen, und ziehe die Jacke enger um meine Schultern, denn draußen ist es kalt, und der Winter hat gerade erst begonnen.



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